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25Ο

gesuchtes Stilisieren, eine absichtlich stilisierende oder archaisierende
Nachahmung der Natur entstehen würde. Ich glaube, dass unsere
Malerei sich erst dann wieder völlig gesund entwickeln kann, wenn
der einfache naive Realismus, der um die Mitte des 19. Jahrhunderts
in der europäischen Malerei eingesetzt hat, wieder zur Herrschaft
gelangen wird.
ZWEIUNDZWANZIGSTES KAPITEL
DER STIL
DURCH den Nachweis, dass die Natur bei jeder künstlerischen
Darstellung verändert werden muss, wird ein neues Band
der Einheit um die Künste geschlungen. Früher hatten wir in
Bezug auf die Naturnachahmung zwei Gruppen von Künsten
unterschieden, nachahmende und nichtnachahmende. Zu den
ersteren rechneten wir Malerei und Plastik, Schauspielkunst, epische
und dramatische Poesie, zu den letzteren lyrische Poesie, Musik,
Tanz, Architektur und Dekoration (Ornament). Beide Gruppen
standen sich scheinbar schroff gegenüber, keine Brücke führte von
der einen zur anderen. Höchstens das Ornament konnte als Binde-
glied betrachtet werden, insofern es wenigstens in seiner natura-
listischen Ausbildung die Natur wirklich nachahmt.
Jetzt aber, nachdem wir zu der Überzeugung gekommen sind,
dass auch bei den nachahmenden Künsten die Natur keineswegs
genau nachgeahmt werden kann, ist selbst dieser Unterschied nicht
mehr haltbar. Denn ob man sagt, eine Kunst ahmt die Natur
in freier Weise, mit bewusster Auswahl und Veränderung nach
(Malerei und Plastik) oder sie schafft nach Analogie der Natur freie
Formen von organischem Kraftausdruck (Architektur undOrnament)
oder sie erzeugt nach Analogie des Lebens menschliche Gefühls-
formen, die einen Stimmungs- und Gefühlsausdruck haben (Lyrik,
Musik und Tanz), das ist schliesslich kein so grosser Unterschied.
Handelt es sich doch in allen drei Fällen um ein Verhältnis zur
 
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