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FÜNFUNDZWANZIGSTES KAPITEL
DAS NATURSCHÖNE

Mit den Erörterungen des vorigen Kapitels haben wir die
Grundlage für die Beantwortung der schwierigsten Frage
gewonnen, die sich der praktischen Ästhetik überhaupt darbietet,
nämlich der nach dem Wesen des Naturschönen. Die meisten Ästhe-
tiker halten es für selbstverständlich, dass der Schönheitsbegriff für
die Kunst und die Natur zusammenfallen müsse, dass wir in der
Kunst genau dasselbe schön fänden was wir auch in der Natur
ästhetisch schätzen. Diese Auffassung ist eine natürliche Kon-
sequenz der Inhaltsästhetik. Wenn uns beim Kunstwerk wirklich,
wie die Inhaltsästhetiker glauben, nicht das Wie, sondern das
Was der Darstellung reizt, so ist klar, dass es uns aus denselben
Gründen reizen muss, aus denen uns derselbe Inhalt in der Natur
reizen würde. Der Mensch würde dann eben das Schöne nur des-
halb in der Kunst darstellen, weil er es in der Natur schön findet,
in irgend einem Sinne dadurch gereizt wird. Wenn man aber auf
diesem Standpunkt steht, kann man natürlich die Illusionstheorie
nicht billigen. Denn der Begriff der Illusion lässt sich, wenig-
stens der allgemeinen Auffassung nach, nur auf die Kunst an-
wenden. Die Naturschönheit bleibt davon scheinbar unberührt.
Wer beweist uns nun aber, dass wir in der Kunst dasselbe
schön finden wie in der Natur? Wenn wir uns auf der Bühne
einen Othello gefallen lassen, der seine Desdemona würgt, so geht
daraus doch nicht hervor, dass wir auch im Leben einen eifer-
süchtigen Gatten, der seine Gattin tötet, mit Lustgefühlen an-
schauen würden. Lind wenn die Kunst hässliche runzlige Gesichter,
Schweineställe, Verbrechercharaktere, Mord und Totschlag darstellen
darf, die wir im Leben ohne Zweifel nicht billigen, soll man
da nicht annehmen, dass Kunstschönheit und Naturschönheit zwei
verschiedene Dinge sind? Das wäre ja auch psychologisch sehr
verständlich. Ein Kunstwerk geniessen wir vor allem als eine
Schöpfung des menschlichen Geistes, während die Natur eben nur
Natur ist und den Gedanken an eine schöpferische That des Men-
schen überhaupt ausschliesst. Mit welchem Recht will man da be-
haupten, dass Kunstschönheit und Naturschönheit identisch seien?
 
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