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Andererseits kann man aber, und das ist das wichtige Ergebnis
des vorigen Kapitels, auch die Naturschönheit sehr wohl auf die
Illusion zurückführen, wenn man sich nur das Wesen der um-
gekehrten Illusion klar gemacht hat. Und ich werde jetzt den
Beweis zu führen haben, dass die Anregungskraft im Sinne
der umgekehrten Illusion thatsächlich die einzige
Schönheit der Natur ist, die man als rein ästhetisch
bezeichnen kann.
Jeder der sich einmal bemüht hat, unbeeinflusst durch ästhe-
tische Theorien die Reize, die die Natur dem Menschen bietet, zu
zergliedern, wird sich davon überzeugt haben, dass das Natur-
schöne ein höchst kompliziertes, schwer zu verstehendes und noch
schwerer auf eine bestimmte Formel zu bringendes Ding ist, von
dem eben nur ein Element oder einige wenige Elemente als spe-
zifisch ästhetisch bezeichnet werden können.
Natürlich müssen wir bei der Ermittelung dieser Elemente
zunächst alle Gefühle ausscheiden, die einen rein sinnlichen Cha-
rakter haben. Das ist schon bei früheren Gelegenheiten wieder-
holt betont worden. Die Freude, die man empfindet, wenn man
sich an einem heissen Sommertage in die kühlenden Fluten eines
Gebirgsbaches stürzt, oder die Wonne, mit der man um die
Zeit der Mittagsglut im kühlen Waldesschatten auf weichem Moos-
teppich wandelt, oder sich auf offener See von einer frischen
Brise anwehen lässt, oder in einem blühenden Garten den Duft der
Blumen einatmet, oder in einem Obstgarten Kirschen pflückt und
verzehrt, ist nicht ästhetisch. Wenn man überhaupt einen Unter-
schied zwischen ästhetisch und sinnlich machen will, so gähnt hier
eine Kluft, die nicht überbrückt werden kann.
Nach dem früher Gesagten (I. 24, 74, 256) müssen wir dazu
auch die Lustgefühle der beiden oberen Sinne rechnen, die rein
sinnlicher Art sind, d. h. äusser dem unmittelbaren Genuss, den
sie gewähren, kein Anlass zu weiteren psychischen Erlebnissen sind.
Wenn man den Gesang der Vögel nur rein sinnlich, als an-
genehmen Kitzel des Gehörsinns geniesst, oder an dem Blau des
Himmels, dem Grün der Wiesen, dem bunten Farbenteppich der
Blumen eine rein sinnliche Freude hat, so geniesst man nicht
ästhetisch.
Daraus geht aber gleichzeitig hervor, dass wir auch jede Vor-
stellung derartiger Genüsse, mit denen ein Begehren, eine Hoff-
nung auf Genuss verbunden ist, aus dem Reiche des ästhetisch
 
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