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Lange, Konrad
Das Wesen der Kunst: Grundzüge einer realistischen Kunstlehre (Band 2) — Berlin: Grote, 1901

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https://doi.org/10.11588/diglit.47236#0291
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DREIUNDZWANZIGSTES KAPITEL
DAS ILLUSIONSPRINZIP ALS GESETZ
DER KUNSTENTWICKELUNG
IR haben die Entwickelung der Flächenkunst von ihren aller-
dings nur hypothetisch zu erschliessenden Anfängen bis zu
dem Punkt verfolgt, wo in einem abgeschlossenen Kulturkreise ein
fester scharf ausgeprägter Stil entsteht. Es konnte dabei prinzipiell
als gleichgültig erscheinen, ob diese so erreichte Stufe für unser,
der Nachgeborenen Urteil von der Natur mehr oder weniger ab-
weicht. Das Entscheidende war vielmehr das, dass diejenigen, die
diesen Stil ausbildeten, bei aller Rücksicht auf die illusionsstören-
den Momente doch von der Absicht der Naturnachahmung, dem
Streben nach der denkbar höchsten Illusion erfüllt waren.
Die Abkürzung und Accentuierung der Natur, die das Wesen
dieses Stils bildet, ist einmal in den technischen Bedingungen der
Kunst begründet, dann aber auch — und das ist hier von be-
sonderer Wichtigkeit — eine Folge ungenauer Beobachtung der
Natur. Wenn man eine ägyptische Tierdarstellung mit einem der
in den südfranzösischen Höhlen gefundenen eingeritzten Tierbilder
vergleicht, so kann man nicht in Zweifel darüber sein, dass das
letztere rein objektiv betrachtet der Natur näher steht als die
erstere. Das erklärt sich, abgesehen von der grösseren Beobach-
tungsschärfe der Jägerstämme, daraus, dass der primitive Mensch,
sobald er überhaupt erst die nötige manuelle Geschicklichkeit zur
Darstellung der Natur erlangt hat, seinem Vorbilde naiver gegen-
übersteht als der einem abgeschlossenen reifentwickelten Kulturkreise
angehörige. Der ägyptische Künstler, der fortwährend zahlreiche
Kunstwerke um sich hatte, der mitten in einer reichen künst-
lerischen Umgebung darin stand, sah die Natur gar nicht mit seinen
eigenen Augen, sondern teilweise mit denen seiner Mitmenschen,
besonders der gleichzeitig lebenden Künstler an. Er wusste aus
der traditionellen Formbehandlung seiner Zeitgenossen, was an
einem menschlichen oder tierischen Körper als wichtig angesehen
wurde, folglich in der Kunst dargestellt werden durfte. Durch
die Fixierung bestimmter Formen, die einen streng abgeschlossenen
 
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