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wenn man ihr die stereometrische Form des Marmorblockes an-
fühle, aus dem sie herausgehauen sei. Ihre Formen müssten sich
von einer bestimmten Seite aus gesehen gewissermassen von einer
vorderen idealen Fläche, d. h. eben der vorderen Fläche des ur-
sprünglichen Marmorblockes aus in die Tiefe entwickeln, und man
könne eine Statue nur dann geniessen, wenn man bei ihrem Anblick
diese ideale vordere Fläche in Gedanken mit zu sehen glaube.
Ich habe das bei der Anschauung plastischer Werke niemals
empfunden und glaube auch nicht, dass es ein naiver Mensch, der
nicht durch Theorien voreingenommen ist, jemals empfinden wird.
Der naive Mensch sieht in einer Statue eine Darstellung des Men-
schen und fragt nur, ob diese Darstellung wahr und überzeugend
ist, ob sie unter Berücksichtigung der Bedingungen, die das Material
stellt, der Natur entspricht. Alles andere ist ihm gleichgültig. Der
Künstler freilich hat seine besondere Art der Darstellung, seinen
persönlichen Stil, der vielleicht in jener Richtung geht. Es ist sehr
instruktiv, wenn er dem Publikum in Rede und Schrift diesen
persönlichen Stil, d. h. sein eigenes Verhältnis zur Natur beim
Komponieren einer Statue auseinandersetzt. Nur kann er nicht
verlangen, dass das Publikum ihn für den alleinberechtigten hält.
Jedenfalls geht die Tendenz der reifentwickelten Plastik nicht auf
Hervorkehrung der technischen Beschränkungen, die die Form des
Marmorblockes dem Bildhauer auferlegt, sondern auf ihre Über-
windung.
Es giebt meines Wissens aus den Zeiten der naiven Kunst-
übung kein schriftliches Zeugnis, das von der Kunst eine deko-
rative oder flächenhafte oder archaisierende Tendenz forderte, wohl
aber wie wir gesehen haben sehr viele, die eine möglichst frappante
Naturnachahmung verlangen. Das beweist doch schlagend, dass
man in diesen Zeiten die Illusionsstörungen, die sich aus der Technik
und dem Material ergaben, als etwas Selbstverständliches in Kauf
nahm, worüber nicht viel Worte verloren zu werden brauchten.
Wir können es nur für ein Zeichen einer gewissen Dekadence
halten, dass man diese rein materiellen Bedingungen der Kunst
jetzt immer so energisch hervorhebt, als ob sie von einem gesund
empfindenden Künstler überhaupt verkannt oder vernachlässigt
werden könnten.
 
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