Overview
Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Löwy, Markus
Amschelberger Jugenderinnerungen: 1855-75-80 — Prag: Selbstverlag, 1909

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.53414#0013
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Mädchen heitere Zwieſprach' gehalten, oft bei den herz- und beine—
erhebenden Klängen einer Drehorgel getanzt und erſt beim Einfall
der Dämmerung traten wir müde und oft liebestrunken den Rück—
weg an, um von vermeintlichen Eroberungen zu kräumen

Und wenn für den Hauſierer der Sonntag herankam, da ſtellten
die Bäuerlein aus der Umgebung ſich ein, kauften und bezahlten (oder
auch nicht) und am Montag gings wieder ans Sorgen und Borgen
ad infinitivum. In dieſem Kreiſe bewegte ſich mehr weniger die Erwerbs—
tätigkeit der damaligen und wie es ſcheint, auch der jetzigen Juden.
Außer den Hauſierern, dem Groß der jüdiſchen Bevölkerung, gab es
Kaufleute, Getreide- und andere Rohproduktenhändler, vereinzelte Hand—
werker und Gewerbetreibende (Bäder, Fleiſcher, Glaſer, Sattler, Ger—
ber uſw.) dazwiſchen auch Müßiggänger und Lungerer derſchiedenſter
Art, die den lieben Herrn walten ließen und in ihrem „unerſchütterlichen
Gottvertrauen“ auf den Meſſtas warteten, der ihnen beſſere Zeiten,
wie ſie die Propheten verhießen, auch bringen ſollte Ihr Erwerb war
wechſelnd und unbeſtimmt und daher auch wenig lukrativ, ihren im
Ganzen beſcheidenen Anforderungen entſprechend. Und ebenſo kleinlich
und beſchränkt wie ihr Wirkungskreis war aug das ganze Denken


hätte ſein müſſen, aber leider — als logiſche Folge der Verhältniſſe —
nicht anders hat ſein können. Das Leben ſpielte ſich wie an einer
Haſpel mit einer erſchreckenden und doch zugleich einſchläfernden Gleich—
mäßigkeit ab in den vier Pfählen des Ghetto; über den
Erew, die mit einem Drahte« oberhalb der Dächer gezogene
Grenze der Judenſtadt reichte der Horizont unſerer Vorfahren nicht;
nur wenige verkehrten in einem weiteren Kreiſe, ſo z. B. dehnte Neb
Chaiim Hübſcher ſeine Geſchäftsreiſen bis nach Prag aus, wozu per
Wagen ein, zu Fuß ein und ein halb Tage nötig waren; da gabs
nur Stellwagen (für Bemittelte), Laſtwagen, die mit Plachen gegen
Wind und Wetter geſchützt waren. Und wenn Herr Hübſcher heimkam,


ſie die Mäuler), denn Herr Hübſcher war ein flotter Erzähler, ein. “
weit gereiſter Mann, was nicht jeder von ſich ſagen konnte, außer

UKek Koppel Perutz.

In unſerer Jugendzeit (1850—1865) gab's in unſerer Gegend noch
keine Bahnverbindung, wer weiter kommen wollte, mußte die vorer—
wähnten Vehikel benutzen oder ſtolz zu Fuß gehen. So wuchſen die
Entfernungen ins Rieſenhafte, die geographiſchen Begriffe nahmen gi—
gantiſche Formen an und man dünkte ſich ein Erdenwürmlein, das die
Strecken zu durchmeſſen, des Alters eines Methuſalem oder — wenn's
ſchneller gehen ſollte — des Vermögens eines Kröſus bedurfte. Extra—
poſt und unterlegte Pferde gehörten demnach nicht in das Inventar
eines Amſchelbergers. Und doch gab es auch hier ſo tollkühne Men—
 
Annotationen