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Lübke, Wilhelm
Geschichte der Architektur von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart — Leipzig, 1855

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https://doi.org/10.11588/diglit.29616#0068

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54

Zweites Buch.

Wesen des
Volkes.

1 reiheitssinn.

SinnfürMaass

und

Harmonie.

des Landes Anregung zur Thätigkeit, aber auch Aussicht auf erfolgreiches
Mühen. Hier krystallisirte nicht das Leben in monotoner Masse um einen
festen Mittelpunkt; vielmehr gliederte sich in reichster Mannichfaltigkeit
das durch Gebirgszüge und tief einschneidende Buchten vielfach getheilte
Land zu mancherlei Einzelgruppen, die für die Entfaltung eines individuell
besondern Lebens den geeignetsten Spielraum boten. Hier endlich lockte
die hafenreiche Küste und die herrliche Lage inmitten dreier Welttheile
zum Handel, zur Meerfahrt, zur Beweglichkeit des Denkens und Trachtens.

Auf diesem bevorzugten Boden treffen wir nun ein Volk, das in sei-
nem AVesen die Eigentümlichkeiten des Landes, gleichsam in höchster
Potenz entwickelt, zur edelsten Blüthe entfaltet zeigt. War bei jenen Völ-
kern des früheren Alterthums irgend eine Seite menschlicher Begabung auf
Kosten der übrigen ausschliesslich vorwiegend, dort die Phantasie, dort
der grübelnde Verstand, dort die praktische Richtung nach Aussen: so sind
in den Griechen jene Eigentümlichkeiten aufs Edelste verschmolzen. Da
nun keine zum Nachteil der andern ausgebildet wurde, so erwuchs dar-
aus einesteils ein Sinn für weises Maasshalten, welcher der kolossalen Un-
geheuerlichkeit abhold war, anderntheils eine Harmonie der Durchbildung,
welche den Menschen nach seiner sinnlichen und geistigen Seite zu einem
in sich einigen, geschlossenen Individuum ausprägte.

Hiermit hing der den Griechen innewohnende mächtige Trieb zur Frei-
heit zusammen. Selbst ihre alten Alleinherrschaften, die in der Heroen-
zeit überall bestanden, waren weit entfernt vom Charakter asiatischer De-
spotie. Wir finden ihre Könige von einem Rate der Aeltesten, Weisesten
umgeben, und schon damals haben die Versammlungen des Volkes einen
bestimmenden Einfluss auf die öffentlichen Angelegenheiten. Aus dem
Sturze jener Herrschergeschlechter erblühte sodann der kräftige Baum
staatlicher Freiheit, unter dessen schützendem Dache allein jene hohe Kul-
turblüthe sich entfalten konnte, welche die Bewunderung aller Zeiten ist.
AVelch ein Gegensatz zu jenen despotisch regierten Völkern des Orients !
Dort wurden alle LTntemehmungen, auch die künstlerischen, von einem
unumschränkten Herrscherwillen diktirt, dem die Masse des ausführenden
Volkes sklavisch gehorchte. Daher in allen jenen Werken eine eintönige
Kolossalität, welche den Mangel geistigfreien Gepräges durch das Massen-
hafte vergeblich zu ersetzen sucht. Bei den Griechen aber entsprangen jene
herrlichen Kunstwerke dem lebendigen Sinne, dem thatkräftigen, selbst-
bestimmenden Geiste des Volkes. Daher jene klar umgrenzte, mit plasti-
scher Bestimmtheit sich von der Naturumgebung ablösende Gestalt der
Bauwerke, die wie lebenerfüllte Individuen leuchtend vor uns stehen.

Doch die Freiheit allein, dies Grundprinzip griechischen AVesens,
würde leicht in schrankenlose Willkür entartet sein, wenn nicht der an-
geborene Sinn für Harmonie, für edles Alaass zügelnd dazugetreten wäre. -
Es lebte in jenem Volke eine geradezu religiöse Scheu vor dem Uebertrie-
benen, Maasslosen; aus allen ihren Schöpfungen wreht uns wohlthuend, be-
ruhigend dieser Hauch entgegen, und in ihren Tragödieen ist das Ueber-
schreiten jenes Grundgesetzes stets der Angelpunkt der tragischen Kata-
strophe. Desswegen war in ihren Freistaaten, selbst in den am meisten
demokratischen, ein starkes aristokratisches Element vorhanden, aber es
 
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