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Lübke, Wilhelm
Geschichte der Architektur von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart — Leipzig, 1855

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https://doi.org/10.11588/diglit.29616#0292

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278

Fünftes Buch.

Veränderte

geistige

Richtung.

Aristokra-
tisch-bürger-
licher Geist.

kleinen viereckigen Fenstern die Seitenschiffe, über diesen das Mittelschiff,
und aus dessen Dache endlich steigt ein viereckiger Thurm mit ziemlich
schlanker Spitze auf. Dadurch erhalten diese Kirchen einen ungemein male-
rischen Aufbau und eine Centralisirung der Anlage, welche irriger Weise
manchmal auf byzantinische Vorbilder zurückgeführt worden ist, während
sie sich doch einfach aus den Bedürfnissen und dem Materiale ergeben hat.
Das Aeussere hat mancherlei Schmuck, auch selbst buntfarbig aufgemalte
Ornamente. Die Giebel sind mit zierlich ausgeschnitzten Brettern bekleidet,
an den Portalen und anderen ausgezeichneten Stellen finden sich Arabesken
von seltsam phantastischem Charakter, bisweilen an Schriftschnörkel in
alten Manuskripten erinnernd. So tönt uns also im entlegensten Norden,
selbst unter der Herrschaft eines wesentlich verschiedenen Materiales, ein
Nachklang der mächtigen Bildungsgesetze entgegen, welche in jener Epoche
die ganze christliche Architektur des Abendlandes bestimmen.

DRITTES KAPITEL.

Der gothische Styl.

1. Allgemeines.

Schon am Ende der vorigen Epoche sahen wir in der Architektur einen
neuen Geist erwachen, neue Kräfte pulsiren , die den romanischen Glieder-
bau durchzuckten und fremdartige Formen aus seinem Kerne hervorgehen
Hessen. Der romanische Styl, der in seinen edelsten Schöpfungen den Inhalt
seiner Zeit, die Verschmelzung antiker Tradition mit christ-
lich-germanischem Leben, so lauter und vollkommen ausgesprochen
hatte, wurde durch diese neue Gährung aus seiner ruhigen Bahn verdrängt
und zu Ausschreitungen getrieben, die ihm einen unklaren, schwankenden
Ausdruck gaben. Diese geistige Bewegung wuchs allmälig so stark an, dass
sie die Gesetze des hergebrachten, seit zwei Jahrhunderten blühenden Styles
gewaltsam durchbrach und sich eine neue, durchaus selbständige Erschei-
nungsform schuf.

Es ist das aristokratisch-bürgerliche Element, welches fortan
alle Lebensäusserungen beherrscht. Wir sahen schon in der vorigen Epoche
im Schoosse der gesellschaftlichen Ordnung diese Umwälzung sich vorbe-
reiten. Sie wurde in Frankreich vorzugsweise durch das auf dem Gipfel
seiner Entwicklung stehende Kitterthum, in Deutschland durch das in jener
Epoche noch überwiegend aristokratische Bürgerthum getragen. Man darf
sich indess nicht die Vorstellung von einem feindlichen Gegensätze dieser
gesellschaftlichen Elemente gegen das Priesterthum machen. Nichts würde
 
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