Drittes Kapitel. Gothischer Styl.
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dem Geiste des Mittelalters widersprechender sein. Weit eher könnte man
behaupten, dass die neue aristokratisch-bürgerliche Entwicklung von einer
spirituelleren Religiosität erfüllt gewesen sei, als vorher in den Zeiten über-
wiegend hierarchischen Gepräges. Es vollzog sich nur ein innerlich noth-
wendiges Gesetz der Entwicklung, dass die Geistlichkeit, die fortan nicht
mehr alleinige Trägerin der Bildung bleiben konnte, nicht ferner mehr aus-
schliesslich dem Leben seinen Zuschnitt gab, dass alle in der vorigen Epoche
unter sorglicher Pflege der Kirche herangereiften Mächte des gesellschaft-
lichen Lebens in jugendlicher Rüstigkeit die Schule verliessen und sofort
dem Dasein einen neuen Inhalt, eine neue Gestalt schufen.
Dies erscheint als der Grundgedanke, aus welchem eine Erklärung v erhältniss
jener überraschenden Thatsache eines zweiten durchaus s e 1 b s t ä n- des§'"thlschen
digen chri s t lieh-mit t el al t er li ch en Baustyles zu schöpfen ist. romanischen.
Nur dem frisch erwachten jungen Leben, das auf durchaus neuen Kultur-
Elementen ruhte, verdanken wir die Erzeugung der gothischen Architektur,
die in besondrer Weise die christliche Anschauung ausspricht, nachdem
dieselbe vorher schon durch den romanischen Styl in eben so selbständiger
Gestalt, wenn auch in verschiedner Auffassung, ausgeprägt worden war.
Allerdings ist der gothische Styl aus dem romanischen hervorgegangen, hat
ihn zur wesentlichen, ja unentbehrlichen Voraussetzung, wie jener wiederum
die Antike: aber er ist keineswegs etwa, wie einseitige Verehrer uns ein-
reden möchten, die nothwendige höchste Blüthe seines Vorgängers. Es
liesse sich vielmehr recht wohl denken, dass das Mittelalter den romani-
schen Styl nicht zum gothischen Systeme umgestaltet, dass es in jenem
sein volles Genügen gefunden hätte. Ist also der romanische Styl allerdings
die unerlässliche Voraussetzung des gothischen, so ist er darum doch nicht
minder für sich zum vollendeten künstlerischen Abschluss gekommen , und
hat sein Ideal mindestens eben so vollständig verwirklicht, wie der gothische
Styl das seinige. Nur die konstruktiven Tendenzen, welche der
Romanismus angeschlagen hatte, boten der neuen Bauweise einen unmittel-
baren Anknüpfungspunkt dar, und erfuhren von ihr eine konsequente höhere
und freiere Lösung. In dieser Beziehung verhalten sich die beiden mittel-
alterlichen Style zu einander ungefähr wie die beiden antiken Hauptstyle.
Wie der dorische Triglyphenfries dem Grundplane des Tempels etwas Ge-
bundenes gab , wovon der rinunterbrochen fortlaufende ionische Fries ihn
befreite — denn die Anordnung der Triglyphen beherrschte die Stellung
der Säulen zu einander, und dadurch die Grundform des ganzen Tempels —,
so war auch im romanischen Style durch den Rundbogen die quadratische
oder annähernd quadratische Eintheilung der Planform vorgeschrieben, und
erst der Spitzbogen konnte eine freiere Anordnung des Grundrisses bewir-
ken. Diese Tendenz hatte, wie wir sahen, auch der Uebergangsstyl, und es
fehlt nicht an bedeutenden Bauwerken, an welchen dieselbe in konsequen-
ter Weise durchgeführt ist. Der gothische Styl versuchte.dieselbe Aufgabe
von einer andern Seite, und dies ist, was er mit der Uebergangsarchitektur
gemein hat. Aber er verfolgte zugleich noch ein andres Ideal, dessen Ver-
wirklichung ihn von allen früheren Bauweisen diametral unterscheidet. Er Grundgedan-
löste nämlich die strenge Mauerumgürtung, welche bei allen früheren Stylen kendesSt-les"
den Innenraum umschloss, und in deren künstlerischer Durchbildung sich
der Geist der verschiedenen Bausysteme offenbarte : statt der Mauer ordnete
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dem Geiste des Mittelalters widersprechender sein. Weit eher könnte man
behaupten, dass die neue aristokratisch-bürgerliche Entwicklung von einer
spirituelleren Religiosität erfüllt gewesen sei, als vorher in den Zeiten über-
wiegend hierarchischen Gepräges. Es vollzog sich nur ein innerlich noth-
wendiges Gesetz der Entwicklung, dass die Geistlichkeit, die fortan nicht
mehr alleinige Trägerin der Bildung bleiben konnte, nicht ferner mehr aus-
schliesslich dem Leben seinen Zuschnitt gab, dass alle in der vorigen Epoche
unter sorglicher Pflege der Kirche herangereiften Mächte des gesellschaft-
lichen Lebens in jugendlicher Rüstigkeit die Schule verliessen und sofort
dem Dasein einen neuen Inhalt, eine neue Gestalt schufen.
Dies erscheint als der Grundgedanke, aus welchem eine Erklärung v erhältniss
jener überraschenden Thatsache eines zweiten durchaus s e 1 b s t ä n- des§'"thlschen
digen chri s t lieh-mit t el al t er li ch en Baustyles zu schöpfen ist. romanischen.
Nur dem frisch erwachten jungen Leben, das auf durchaus neuen Kultur-
Elementen ruhte, verdanken wir die Erzeugung der gothischen Architektur,
die in besondrer Weise die christliche Anschauung ausspricht, nachdem
dieselbe vorher schon durch den romanischen Styl in eben so selbständiger
Gestalt, wenn auch in verschiedner Auffassung, ausgeprägt worden war.
Allerdings ist der gothische Styl aus dem romanischen hervorgegangen, hat
ihn zur wesentlichen, ja unentbehrlichen Voraussetzung, wie jener wiederum
die Antike: aber er ist keineswegs etwa, wie einseitige Verehrer uns ein-
reden möchten, die nothwendige höchste Blüthe seines Vorgängers. Es
liesse sich vielmehr recht wohl denken, dass das Mittelalter den romani-
schen Styl nicht zum gothischen Systeme umgestaltet, dass es in jenem
sein volles Genügen gefunden hätte. Ist also der romanische Styl allerdings
die unerlässliche Voraussetzung des gothischen, so ist er darum doch nicht
minder für sich zum vollendeten künstlerischen Abschluss gekommen , und
hat sein Ideal mindestens eben so vollständig verwirklicht, wie der gothische
Styl das seinige. Nur die konstruktiven Tendenzen, welche der
Romanismus angeschlagen hatte, boten der neuen Bauweise einen unmittel-
baren Anknüpfungspunkt dar, und erfuhren von ihr eine konsequente höhere
und freiere Lösung. In dieser Beziehung verhalten sich die beiden mittel-
alterlichen Style zu einander ungefähr wie die beiden antiken Hauptstyle.
Wie der dorische Triglyphenfries dem Grundplane des Tempels etwas Ge-
bundenes gab , wovon der rinunterbrochen fortlaufende ionische Fries ihn
befreite — denn die Anordnung der Triglyphen beherrschte die Stellung
der Säulen zu einander, und dadurch die Grundform des ganzen Tempels —,
so war auch im romanischen Style durch den Rundbogen die quadratische
oder annähernd quadratische Eintheilung der Planform vorgeschrieben, und
erst der Spitzbogen konnte eine freiere Anordnung des Grundrisses bewir-
ken. Diese Tendenz hatte, wie wir sahen, auch der Uebergangsstyl, und es
fehlt nicht an bedeutenden Bauwerken, an welchen dieselbe in konsequen-
ter Weise durchgeführt ist. Der gothische Styl versuchte.dieselbe Aufgabe
von einer andern Seite, und dies ist, was er mit der Uebergangsarchitektur
gemein hat. Aber er verfolgte zugleich noch ein andres Ideal, dessen Ver-
wirklichung ihn von allen früheren Bauweisen diametral unterscheidet. Er Grundgedan-
löste nämlich die strenge Mauerumgürtung, welche bei allen früheren Stylen kendesSt-les"
den Innenraum umschloss, und in deren künstlerischer Durchbildung sich
der Geist der verschiedenen Bausysteme offenbarte : statt der Mauer ordnete