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Fünftes Buch.
Zerstörung
desselben.
Neue Völker-
gruppen.
Verschiedene
Elemente.
Das Christen-
thum.
Gegensatz
gegen die
Natur.
lerischen Neugestaltung sich vollziehen konnte. Wie gross auch Karl’s
Verdienste um Begründung eines neuen Kulturlebens waren, in staatlicher
Hinsicht konnte er sich doch nicht von der Idee eines zu begründenden
Weltreiches losreissen, welches nach dem Muster der alten Cäsarenherr-
schaft die Eigentümlichkeiten der Nationen zu Gunsten einer centralisirten
Einheit verwischt haben würde. Da war es der Freiheitssinn der germani-
schen Völker, der die kaum geschlossenen Bande bald nach des grossen
Kaisers Tode trennte und der abendländischen Menschheit das Recht und
die Möglichkeit individueller Entwicklung wiedergab. Der Zerfall des karo-
lingischen Reiches, die Scheidung in nationale Gruppen, bezeichnet den
Beginn des eigentümlichen Entwicklungsprozesses, den wir als den spe-
ziell mittelalterlichen aufzufassen haben.
Hier springt nun zunächst ein entscheidender Gegensatz gegen die
bisher betrachteten Kulturepochen ins Auge. Nur der Muhamedanismus
hot eine gewisse Verwandtschaft, jedoch auf einer weit niedrigeren, weil
unfreieren Stufe. Wir sehen nämlich eine Anzahl von Völkergruppen sich
neben einander entfalten, unterschieden durch Abstammung, Sprache und
nationales Bewusstsein, vielfach in Gegensätze und Konflikte mit einander
gerathend, dennoch an gemeinsamer Aufgabe Avie auf ein im Stillen gege-
benes , allgemein anerkanntes Losungswort mit den edelsten Kräften arbei-
tend. Diese Aufgabe selbst war aber von Allem, Avas vordem erstrebt wurde,
nicht minder unterschieden.
Es Avar zum Theil ein Element innerer AVahlverAvandtschaft, zum
Theil das Uebergewicht einer höheren Kultur, Arermöge dessen die germa-
nische Welt den Lehren des Christenthumes sich fügte. Gleichwohl war
der Prozess der UniAArandlung, der Verschmelzung des naturwüchsig natio-
nalen Wesens mit den aufgedrungenen Lehensanschauungen ein so langsam
fortschreitender, dass er streng genommen niemals zum völligen Abschluss
kam, sondern der ganzen mittelalterlichen Epoche mit den Zügen bestän-
digen inneren Kampfes und Ringens an der Stirn geschrieben steht. In
allen Erscheinungen zeigt das Leben jener Zeit das Bild gewaltiger Gegen-
sätze, die, während sie einander abstossen, sich doch zugleich auf’s Innigste
zu verbinden streben. In diesem eAvigen Suchen und Fliehen liegt der letzte
Grund der Tiefe und Reichhaltigkeit ihres EntAvicklungsganges, liegt zu-
gleich das Interesse, Avelches uns an diese merkwürdige Epoche stets Aron
Neuem fesselt. Während wir es bei den Gestaltungen der antiken Welt
mit einem in schönem Selbstgenügen ruhenden Sein zu thun hatten, weht
uns hier der Athemzug eines eAvig wechselvollen, rastlos nach EntAvicklung
ringenden Werdens an.
Bei den alten Völkern war die Religion ein naturgemässes Ergebniss,
gleichsam die feinste Blüthe des heimischen Bodens. Sie stand in vollem
Einklänge mit der gesammten äusseren Existenz, Avie mit dem inneren
geistigen Leben. Daher in allen Erscheinungen der antiken Welt jene har-
monische Ruhe, jene klare Geschlossenheit, die uns anblickt mit dem
Lächeln seliger Kindheit. Ganz anders im Mittelalter. Die nationalen
Götter, verdrängt durch den Gott des Christenthumes, führen fortan nur
als Gespenster und böse Geister ein spukhaftes Dasein. Das Christenthum
aber tritt sofort mit allen seinen Forderungen feindlich gegen die Natur des
Menschen auf. Es erklärt dieselbe für sündhaft, verlangt eine geistige
Fünftes Buch.
Zerstörung
desselben.
Neue Völker-
gruppen.
Verschiedene
Elemente.
Das Christen-
thum.
Gegensatz
gegen die
Natur.
lerischen Neugestaltung sich vollziehen konnte. Wie gross auch Karl’s
Verdienste um Begründung eines neuen Kulturlebens waren, in staatlicher
Hinsicht konnte er sich doch nicht von der Idee eines zu begründenden
Weltreiches losreissen, welches nach dem Muster der alten Cäsarenherr-
schaft die Eigentümlichkeiten der Nationen zu Gunsten einer centralisirten
Einheit verwischt haben würde. Da war es der Freiheitssinn der germani-
schen Völker, der die kaum geschlossenen Bande bald nach des grossen
Kaisers Tode trennte und der abendländischen Menschheit das Recht und
die Möglichkeit individueller Entwicklung wiedergab. Der Zerfall des karo-
lingischen Reiches, die Scheidung in nationale Gruppen, bezeichnet den
Beginn des eigentümlichen Entwicklungsprozesses, den wir als den spe-
ziell mittelalterlichen aufzufassen haben.
Hier springt nun zunächst ein entscheidender Gegensatz gegen die
bisher betrachteten Kulturepochen ins Auge. Nur der Muhamedanismus
hot eine gewisse Verwandtschaft, jedoch auf einer weit niedrigeren, weil
unfreieren Stufe. Wir sehen nämlich eine Anzahl von Völkergruppen sich
neben einander entfalten, unterschieden durch Abstammung, Sprache und
nationales Bewusstsein, vielfach in Gegensätze und Konflikte mit einander
gerathend, dennoch an gemeinsamer Aufgabe Avie auf ein im Stillen gege-
benes , allgemein anerkanntes Losungswort mit den edelsten Kräften arbei-
tend. Diese Aufgabe selbst war aber von Allem, Avas vordem erstrebt wurde,
nicht minder unterschieden.
Es Avar zum Theil ein Element innerer AVahlverAvandtschaft, zum
Theil das Uebergewicht einer höheren Kultur, Arermöge dessen die germa-
nische Welt den Lehren des Christenthumes sich fügte. Gleichwohl war
der Prozess der UniAArandlung, der Verschmelzung des naturwüchsig natio-
nalen Wesens mit den aufgedrungenen Lehensanschauungen ein so langsam
fortschreitender, dass er streng genommen niemals zum völligen Abschluss
kam, sondern der ganzen mittelalterlichen Epoche mit den Zügen bestän-
digen inneren Kampfes und Ringens an der Stirn geschrieben steht. In
allen Erscheinungen zeigt das Leben jener Zeit das Bild gewaltiger Gegen-
sätze, die, während sie einander abstossen, sich doch zugleich auf’s Innigste
zu verbinden streben. In diesem eAvigen Suchen und Fliehen liegt der letzte
Grund der Tiefe und Reichhaltigkeit ihres EntAvicklungsganges, liegt zu-
gleich das Interesse, Avelches uns an diese merkwürdige Epoche stets Aron
Neuem fesselt. Während wir es bei den Gestaltungen der antiken Welt
mit einem in schönem Selbstgenügen ruhenden Sein zu thun hatten, weht
uns hier der Athemzug eines eAvig wechselvollen, rastlos nach EntAvicklung
ringenden Werdens an.
Bei den alten Völkern war die Religion ein naturgemässes Ergebniss,
gleichsam die feinste Blüthe des heimischen Bodens. Sie stand in vollem
Einklänge mit der gesammten äusseren Existenz, Avie mit dem inneren
geistigen Leben. Daher in allen Erscheinungen der antiken Welt jene har-
monische Ruhe, jene klare Geschlossenheit, die uns anblickt mit dem
Lächeln seliger Kindheit. Ganz anders im Mittelalter. Die nationalen
Götter, verdrängt durch den Gott des Christenthumes, führen fortan nur
als Gespenster und böse Geister ein spukhaftes Dasein. Das Christenthum
aber tritt sofort mit allen seinen Forderungen feindlich gegen die Natur des
Menschen auf. Es erklärt dieselbe für sündhaft, verlangt eine geistige