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Lübke, Wilhelm
Geschichte der Architektur von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart — Leipzig, 1865

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https://doi.org/10.11588/diglit.26748#0666
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644

Sechstes Buch.

Die Renais-
sance.

Vergleich
mit der
Gothik.

tigkeit, kernhafte Gesinnung sich ergaben. Inzwischen war unter hochbegün-
stigenden Verhältnissen der Süden auf künstlerischem Gebiet so weit voran-
geeilt, dass er dem Norden imponirte und ihn in einer gewissen Abhängigkeit
hinter sich herzog. Wir werden dies Verhältniss bei der gesonderten Betrach-
tung jener Länder im Einzelnen darzulegen haben.

Schon um 1420 griffen die italienischen Architekten, die den gothischen
Styl nur äusserlich aufgenommen und selbst innerhalb seiner Traditionen sich
bald dem Bundbogen wieder zugewendet hatten, mit Bewusstsein zu den an-
tiken Formen zurück, um eine „Wiedergeburt“ der Baukunst herbeizuführen.
Diese Renaissance ging von einem sorgfältigen Studium der antiken Ueber-
reste aus. Trotz der Rücksichtslosigkeit, mit welcher das baulustige Rom seit
einem Jahrtausend die Prachtwerke der antiken Zeit als Steinbrüche behandelt
und ihrer kostbaren Säulen beraubt hatte, war damals noch ein ansehnlicher
Rest grossartiger Bauanlagen vorhanden. Das ganze Mittelalter hindurch war
man hier äusserlich und innerlich an die antike Tradition gebunden gewesen,
ja in dem hochgebildeten Toskana fanden wir im 12. und 13. Jahrhundert
eine freie Nachahmung antiker Formen, welche Musterwerke wie S. Miniato
hervorbrachte. „Die Renaissance hatte“, wie Burckhardt sagt, „schon lange
gleichsam vor der Thür gewartet.“ Was sie indess aus der Betrachtung der
altrömischen Monumente gewinnen konnte, war nur ein formales Element, ein
Canon bestimmter Gliederungen und Details: die Gesammtanlage, die Verthei-
lung der Massen und Räume war ihr eigenes Verdienst. Jene Formen waren
an den antik-römischen Gebäuden bereits abgeleitete, die sich nicht ohne eine
Trübung ihres ursprünglichen Wesens anderen Zwecken anbequemt hatten.
Die Renaissance schöpfte in dieser Hinsicht also aus zweiter Hand und ver-
fuhr im Anfang um so willkürlicher, als man noch nicht die Werke der besseren
und der entarteten Zeit zu unterscheiden gelernt hatte. Dennoch hätten die
modernen Baumeister eben so wenig wie die altrömischen die feinen, auf ge-
ringe Dimensionen berechneten rein griechischen Formen verwenden können:
ihre Architektur war wie die der alten Römer auf Gliederung bedeutender
Massen gerichtet, forderte daher eine ähnliche Umgestaltung der griechischen
Details. Sie tlieilt folglich in ihren besseren Werken die Vorzüge und die
Mängel der antik-römischen Bauten. Einen tiefen, lebensvollen Organismus
würde man hier vergeblich suchen; die Formen sind mehr in decorativem
Sinn dem Baukörper aufgeheftet, ihm in mannichfacher, möglichst geschickter,
oft höchst geistvoller Weise angepasst.

Aber so weit in organischer Hinsicht die Renaissance hinter der gothi-
schen Architektur der guten Zeit zurückbleibt, so hoch übertrifft sie dieselbe
in praktischer Anwendbarkeit, in Vielseitigkeit und Mannichfaltigkeit. Der
gothische Styl hatte auf Kosten des Zweckmässigen seine eigensinnige Schön-
heit ausgebildet und auf die höchste ideale Stufe gesteigert. Die Renaissance
ging von den vielseitigsten Bedürfnissen des wirklichen Lebens aus und wusste
für dieselben mit glänzender Begabung jedesmal eine originelle, zweckent-
sprechende künstlerische Lösung zu finden. Ihre wichtigste positive Eigen-
schaft ist das Gefühl für Räumlichkeit, für malerische Gruppirung, klare Glie-
derung, angemessene Belebung der Massen. Selbst ihre bisweilen nüchternen,
später schwülstig überladenen Detailbildungen vergisst man meist über dem
grossen Eindruck, den die schönen Verhältnisse, das mächtige individuelle
Leben, das aus dieser Architektur hervorquillt, auf das Auge machen. Hatte
der gothische Styl den Rhythmus der Bewegung ausgebildet, so ist hier
 
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