Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Lübke, Wilhelm
Geschichte der Architektur von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart — Leipzig, 1865

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.26748#0665

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Erstes Kapitel. Allgemeine Charakteristik.

643

Der Protestantismus muss erst seinPrincip aus dem Wust erstarrter Ueber-
lieferung retten und es dann mit dem Schwert vertheidigen: seine künstleri-
sche Verklärung bleibt einer späteren Zeit Vorbehalten.

In Italien rafft sich indess die alte kirchliche Autorität jenen anarchi-Der moderne
sehen Bewegungen gegenüber zu äusserster Kraftanstrengung auf, gewinnt den Ra“izis'
neuen Bekenntnissen manches bereits verlorene Terrain wieder ab, verliert
aber immer mehr an innerer Reinheit und Wahrheit. Es entsteht ein Katholizis-
mus der forcirten Ueberreizung, der künstlichen Verzückung, der in den ita-
lienischen und spanischen Malern der zweiten Hälfte des sechzehnten und denen
des siebzehnten Jahrhunderts sich glänzend manifestirt. Die Religion ist nun
Parteisache, Gegenstand der Agitation, willkommener Ableiter der leidenschaft-
lichen Aufregung eines Inneren, das, des alten schlichten Glaubens verlustig,
im Rausch der Ekstase Schutz sucht vor dem Nagen des Zweifels. In dieser
allgemeinen Gährung verliert auch die Sittlichkeit ihren letzten Halt, und es
entsteht ein Haschen nach Aeusserlichkeiten, nach frivolem Gemessen, das in
entfesselter Rücksichtslosigkeit seinem Ziele nachjagt. Recht und Sitte schwin-
den, und an ihre Stelle tritt Macht und willkürliches Gelüsten.

Und doch, so viele bedenkliche Züge das Angesicht dieser Zeit entstellen, positive
so leidenschaftliche Zuckungen darüber hinfahren, Klarheit und Ruhe ver- E]enjente-
drängend: man darf sich nimmer irre machen lassen an dem grossen Gehalt,
der sich dahinter birgt. So wenig die sittliche Anarchie der ersten christ-
lichen Jahrhunderte gegen das Christenthum zeugen kann, so wenig wird das
neue geistige Princip der freien Individualität durch die gefährlichen Wehen,
unter denen es in die Welt tritt, in seinem Werthe geschmälert. Kein Wunder,
dass es sich zuerst als zügellose Willkür offenbarte, da es in einer Zeit ge-
waltsamer Auflösung, atomistischer Zersplitterung keine feste Grundlage ge-
winnen konnte und gleichsam in der Luft schwebte. Aber die unerschöpfliche
Fülle von Geist, Muth und Lebenskraft, die uns auf jedem Schritt begeguet,
ist der Bewunderung wertli, selbst wo sie, ihres Zieles unkundig, auf Abwegen
irrt. Im Gegensatz gegen die früheren Zeiten, die mit dem positiv Gegebenen
begannen und dasselbe zur Verwirklichung zu bringen suchten, fängt diese
neue Epoche mit der kritischen Auflösung des Gegebenen an, und ihre unge-
heure Aufgabe ist, aus der Zersetzung zur Zusammensetzung, aus der Trennung
zur Einigung vorzuschreiten. Dass eine solche Aufgabe nur auf weitem, be-
schwerlichem Wege, auf Kosten manchen Umweges und Irregehens erreicht
werden kann, ist nicht zu verwundern. Eben so wenig überrascht es, dass
einer Zeit, welche ausschliesslich kirchlich zu sein und selbst dem Weltlichen
den Nimbus der Kirchlichkeit zu geben sich bemühte, jetzt eine Zeit folgt, die
innerlich weltlich ist, und deren ganze angebliche Kirchlichkeit ihren Schimmer
von weltlichem Wesen borgt. In der Architektur spricht sich diess am Schla-
gendsten aus. Kein Orden überlud seine Kirchen mit einem solchen Wust
weltlichen Prunkes wie der Jesuitenorden, der, ein Kind jener Zeit, ihre Ge-
brechen und Vorzüge in reichstem Ma.asse theilt.

Es wurde schon angedeutet, dass alle diese Zustände, von denen wir
eine dürftige Skizze versuchten, im Mutterlande des modernen restaurirten
Katholizismus, in Italien, ihre Höhe erreichen; dass im Norden, besonders
aber in Deutschland, manche Verschiedenheiten, selbst Gegensätze sich heraus-
steilen. Hier fechten die grossen Principien der Zeit ihre blutigen, lang-
wierigen Entscheidungskämpfe, in deren Gefolge äussere Rohheit, Mangel au
der eleganten formalen Bildung des Südens, aber dafür auch schlichte Tiich-

41 *
 
Annotationen