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Lübke, Wilhelm
Geschichte der Architektur von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart — Leipzig, 1865

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https://doi.org/10.11588/diglit.26748#0664

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642

Sechstes Buch.

dehnte sich mit Behagen auf der Erde aus. Wir erkennen auch darin deutlich
den realistischen Zug der Zeit.

Neue Wie in der Kunst, so hatten im ganzen äusseren Leben die mittelalter-

sfchtung. liehen Gedanken sich erschöpft. Neues vermöchten sie nicht mehr hervorzu-
bringen. Die letzten Gestaltungen des gothischen Styls tragen jenes Gepräge
innerer Auflösung und Principlosigkeit an sich, welches in Staat und Kirche
mit Macht aller Orten hervorbricht. Eine tiefe Gährung hat sich der Geister
bemächtigt; ein gewaltiger Drang nach Wissen und Erkenntniss erfüllt sie.
Aeussere Ereignisse, wie die Einnahme von Constantinopel durch die Türken
(1453), in Folge deren eine grosse Anzahl griechischer Flüchtlinge die Kunde
antik-hellenischer Literatur im Abendlande, zunächst in Italien, mehr und mehr
ausbreitet, kommen diesem inneren Drange zu Statten*). Ein gelehrtes Stu-
dium von einer Tiefe und einem Umfang, wie keine Zeit vorher sie gekannt
hatte, bahnt einer neuen Wissenschaftlichkeit den Weg und gibt Ersatz für
die Tradition, auf der in alter Naivetät zu fussen man verlernt hat. An die
Stelle des Glaubens tritt der Durst nach Wissen, an die Stelle der allgemeinen
Autorität das nach persönlicher Freiheit ringende Individuum. Der Geist
der Forschung dringt selbst in das Heiligthum der Kirche, ringt wie
einst der Erzvater mit dem Göttlichen und erklärt sich der überlieferten
Satzungen ledig.

staatliche Auf politischem Gebiet**) kommt die neue, das Recht des Individuums

Uatungtal proclamirende Richtung zunächst dem Absolutismus Einzelner zu Gute. Das
souveraine Fürstentnum erhebt sich auf den Trümmern der längst durch innere
Parteiungen zerrütteten bürgerlich freien Verfassungen, und im Ringen nach
Herrschaft und Besitz entbrennen langwierige Kriege, in deren Verlauf und
Gefolge die erschöpfte Welt eine völlig veränderte Physiognomie bekommt.

Italien und Doch scheiden sich in dieser Epoche Italien und der Norden in ganz

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'besonderer Weise. Zuerst tauchen die reformatorischen Gedanken im Süden
auf, und recht eigentlich im Schooss der Kirche bricht die wildeste Auflösung
hervor. Italien hatte im Beginn des Mittelalters seine roheste Zeit gehabt und
war damals hinter den nordischen Ländern zurückgeblieben. Seitdem aber
hatte es in jeder Bildung so bedeutende Fortschritte gemacht, dass es den
Norden zu überflügeln beginnt. In der goldenen Epoche der neueren Zeit, etwa
von 1450 bis 1550, feiern die Wissenschaften, Poesie und bildenden Künste
hier ihre glorreichste Entfaltung. Dagegen werden die kirchlich-reformatori-
schen Bestrebungen mit Gewalt erstickt , während jene anderen nicht minder
gewaltigen Reformatoren, Lionardo da Vinci, Michel Angelo, Rafael, Titian,
Correggio, von der kirchlichen Autorität selbst sich gehegt sehen. Italien, das
Land der heidnischen Sympathien, der antiken Ueberlieferungen, begann am
frischesten aufzuleben, als die mittelalterlichen Anschauungen vor dem Geist
der neuen Zeit zusammenbrachen. Der germanische Norden dagegen, dessen
höchste künstlerische Tliat der gothisclie Styl gewesen, verliert zunächst mit
dem mittelalterlichen Lebensprincip in der Kunst seinen Halt und versinkt in
einseitigen Naturalismus und Entartung. Aber auf dem religiösen Gebiete
erfasst gerade Deutschland die Aufgabe der Zeit an der tiefsten Wurzel, und
während seine Luther und Melanchthon die alte Kirche aus ihren Angeln heben,
mag freilich die künstlerische Cultur für lange Zeit in den Hintergrund treten.

*) Vergl. Dr. Q. Voigt, Die Wiederbelebung des klassischen Alterthums. Berlin 1859.

**) Das umfassendste und treueste Bild des gesammten Zustandes in Italien während dieser Epoche
bietet Jac. Burckhardt’ s Kultur der Renaissance in Italien. Basel 1860.
 
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