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Lübke, Wilhelm
Geschichte der Architektur von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart — Leipzig, 1865

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https://doi.org/10.11588/diglit.26748#0667

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Erstes Kapitel. Allgemeine Charakteristik.

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nach Kugler’s treffendem Ausdruck „ein Rhythmus der Massen durch-
geführt, eine neue Schönheit der Verhältnisse gewonnen, welche jener Styl
schon um seines Princips willen nicht in dieser Weise gekannt hatte.“ Was
aber die Decoration der Renaissance betrifft, so muss man, selbst abgesehen
von den spätgothischen Werken, bei denen dieselbe auch in nichts weniger
als organischer Weise sich dem Ganzen anschliesst, bei einem Vergleich mit
der Decoration der besten gothischen Zeit jener unbedingt den Vorrang zu-
gestehen. Denn in ihrer plastischen lebensvollen Weise, bei der innigen Ver-
bindung, welche sie wieder mit den Schwesterkünsten eingeht, ist sie dem
trockenen Schematismus der Gothik, der die Thätigkeit der Sculptur und der
Malerei verkümmert und statt inhaltsvoller, bedeutungsreicher Gestaltungen
ein leeres Spiel mit geometrischen Linien bietet, bei Weitem überlegen. In
der Decoration, besonders der Innenräume, hat die Renaissance einen Reich-
thum, eine Schönheit und Harmonie entfaltet, wie keine Zeit vorher.

Wir bezeichneten den Hang nach freier Individualität als den Grundzug individuelle
der neuen Epoche. Auch in der Architektur gibt sich derselbe zu erkennen, Elemeilt'
und es ist mehr als eine äussere Zufälligkeit, dass sich die Geschichte der
Renaissance mehr durch die Geschichte der Baumeister als der Bauwerke
bildet. Der Entwicklungsgang, die künstlerische Fähigkeit des Einzelnen ist
mehr als früher von entscheidendem Einfluss auf die Gestaltung der Archi-
tektur. Früher kam in den Werken dieser Kunst das allgemeine Gefühl der
Zeiten und der Völker vorherrschend zum Ausdruck: jetzt geben sie mehr die
Richtung, die innere Gesinnung des Einzelnen, allerdings im Zusammenhang
mit seiner Zeit, wieder. Damit hängt es denn auch zusammen, dass der Kirchen-
bau sich von den zu allen anderen Zeiten beachteten Bedingungen des Cultus,
von der religiösen Grundlage überhaupt befreit. Katholische und protestanti-
sche Kirchen erheben sich nach demselben Schema, gemäss einer mehr ab-
stracten, individuellen Begeisterung für das, was man als „klassisch“ an-
erkannte, nicht nach ritualen Bedürfnissen und allgemeinen religiösen An-
schauungen. Darum entfaltet sich die freiere Beweglichkeit, die im Gebiet
architektonischen Schaffens herrscht, da am originellsten und in schöpferischer
Kraft, wo der erfindenden Thätigkeit des Individuums am meisten freies Spiel
gelassen wird: im Profan-und ganz speciellim Privatbau. Paläste, Schlösser
und Landhäuser bilden die höchsten Leistungen dieses Styles, der seinen welt-
lichen Charakter nirgends, am wenigsten in seinen kirchlichen Gebäuden ver-
leugnet. Auch hierin spricht sich eine innere Uebereinstimmung mit der prakti-
schen Richtung, dem freien, rührigen, auf’s wirkliche Leben zielenden Sinn
der antiken Römerzeit aus, und ein kräftiger Hauch freudig klaren Wesens
weht aus den Schöpfungen dieser Epoche uns an. Er entschädigt selbst für
das manchmal vorherrschende kühl verständige Element, das unvermeidlich
sich einfinden musste bei einer Architektur, die im Gegensatz zu den meisten
früheren Baustylen ein Erzeugniss der Reflexion und einer auf der Reflexion
beruhenden mehr wissenschaftlichen als ausschliesslich künstlerischen Be-
geisterung war.
 
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