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Deutscher Altphilologenverband [Editor]
Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes — 3.1960

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Nr. 2/3
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Aus einer Festrede
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https://doi.org/10.11588/diglit.33058#0020
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Aus einer Festrede

Schulfeiern geben die Möglichkeit, den internen Rahmen der Schule zu verlassen und
einer weiteren öffentlichkeit die eigenen Anliegen darzulegen. Besonders eindrucksvoll
gelingt dies, wenn schulfremde Persönlichkeiten sich dazu bereitfinden. So hielt der stell-
vertretende Ministerpräsident und Finanzmimster von Nordrhein-Westfalen Dr. Artur
Sträter anläßlich der Feier des 425jährigen Bestehens des Staatlichen Archigymnasiums
zu Soest am 12. September 1959 die Festansprache; sie liegt gedruckt vor und ist betitelt:
Erbe und Verpflichtung, Rechenschaftsbericht einer Generation. Ihr entnimmt die Redak-
tion folgende Abschnitte:

„Waren wir - die um die Jahrhundertwende Geborenen - nach 1918 nur Opfer des
verlorenen Krieges mit seinen Zerfallserscheinungen, so wurden wir 1933 zu einer in
Wahrheit verlorenen Generation.“ . . . „Wer noch einen Funken vom Geist des ,ersten
Lehrers Europas', Sokrates, in sich lebendig fühlte, dem schlug das Gewissen. Dem
Christen gaben Bibel und Wissen um die Erlösung den letzten Plalt vor dem ihm wider-
fahrenden Unrecht durch den Unmenschen, der unser äußeres Leben bestimmte. Ver-
zweifelnd und hoffend, das Auf und Ab zwischen Diktatur und demokratischem Scher-
bengericht aus der griechischen Staatsgeschichte ebenso im Bewußtsein wie das Wechsel-
spiel der Staatsform in der Geschichte der Alten und Neuen Welt, griffen wir alle
wieder zu Plato, uns aufrichtend an Sokrates, dieser erhabenen Erscheinung der Ge-
schichte, der nicht ein Wort Geschriebenes hinterließ und niemals lebendiger für uns
war als in jenen Jahren geistiger und politischer Unterdrückung. Sokrates' Auseinander-
setzung mit dem Mißbrauch der Macht durch die Amtsträger seiner Zeit, Sokrates, der
schlichte Bürger, das Todesurteil aristokratisch auf sich nehmend und die gebotene
Möglichkeit der Flucht ausschlagend, heroisch dem übergeordneten Anspruch des Staates
bis zur Konsequenz des Schierlingsbechers dienend: so ergreifend nahe war uns die
Antike noch nie!“

. . . „Derjenige, der das Glück hatte, nicht nur ein humanistisches Gymnasium be-
sucht zu haben, der guten Lehrern schon in der Schule das Eindringen in humanistisches
Gedankengut verdankte, der auf der Universität oder im späteren Selbststudium wirk-
lich erfassen lernte, was das Wesen des Humanismus ausmacht — die Überzeugung
nämlich von der universalen Verbindlichkeit rationaler Aussagen und Gesetze, das
Wissen um die Überschneidung von Ethos und Virtus, wie sie gleichermaßen Cato und
etwa der viel mißdeutete Macchiavelli verstehen, die gewollte Unterscheidung zwischen
artes humaniores und den artificia necessaria, die Erkenntnis, daß unhumanistisch alles
ist, was das Maß des Menschen sprengt, daß anders als die Sophisten es wollten, nicht
der Mensch das Maß aller Dinge ist, sondern der Gott, das allem übergeordnete Wesen -
er, der humanistisch Gebildete, hatte es leichter, innere Distanz von der grauenhaften
Gegenwart des 3. Reiches zu halten. Und nun wird man mich, wird man diese meine
Generation in dieser Feierstunde begreifen, wenn ich frage: wo wären wir, die zur
verlorenen Generation scheinbar prädestinierte Jugend von 1920, wir, die gefährdeten
Menschen, verurteilt, in der Unfreiheit des 3. Reiches zu leben, wo, darf ich fragen,
wären wir geblieben ohne das Fundament des Wissens um die großen Zusammenhänge
des Lebens, das uns unsere nun ganz bewußt geliebte Schule mit auf den Lebensweg gab?

Nicht, daß wir lesen und schreiben können, daß wir in den Stunden der Muße - der
eine oder andere sogar noch im Urtext - die griechischen und römischen Klassiker noch
einmal nachhaltig erleben, daß wir im Vergleich der Literatur der Weltgeschichte immer
wieder auf die ewigen Weisheiten Platos oder die exemplarische Darstellung mensch-
licher Größe und Verzweiflung in den antiken Dramen stoßen. Je älter wir werden,
desto tiefer geht uns die umfassende Lebensweisheit Homers auf, und wir müssen er-

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