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Meier-Graefe, Julius [Editor]; Renoir, Auguste [Ill.]
Auguste Renoir — München, 1920

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https://doi.org/10.11588/diglit.27183#0040
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seiner Laufbahn fähig- sein, gewisse Motive vollkommen zu be-
herrschen. Aber er ist in solchen Zeiten von dem Zufall abhängig,
der ihm solche Motive zuträgt. Die „Lise“ war ein Glücksfall.
Ihre naive Schönheit ging ganz in die naive Darstellung auf. Das
nächste Jahr, 1868, bescheerte Renoir einen ähnlichen Glücksfall
mit dem „Gargon au chat“ *). Die Kombination der weißen,
grauen und blauen Töne war ein überaus glücklicher Griff, der
gerade diesem Motiv zustatten kommen mußte. Renoir ließ die
graublau gemusterte Tischdecke, das wichtigste Detail des Vorder-
grundes, aus einem Gewebe starker Pinselstriche entstehen und
erwies sich dabei als vollkommener Meister der Materie. Er wäre
sicher unfähig gewesen, das Fleisch ebenso reich zu malen. Aber
gerade neben der reichen Decke gibt der glattere Vortrag im
Fleisch der schmächtigen Zartheit des nackten Knaben einen seltenen
Reiz. Der vielleicht notgedrungenen Differenz in der Behandlung
kommt die natürliche Differenz der gegebenen Materien entgegen,
und die sehr einfache Beziehung zwischen den grauen Tönen des
Fleisches und der Decke genügt vollkommen für den koloristischen
Zusammenhang. Doch steht die meisterhaft modellierte Gestalt
nicht annähernd so sicher und ungekünstelt wie die „Lise“. Man
beschwichtigt nicht alle Einwände mit dem Hinweis auf die Zartheit
des Körpers. Seine Anatomie scheint um ein Geringes zu schwach,
nicht für die Lebensfähigkeit des Knaben, sondern für das Gleich-
gewicht des Bildes.

In dem „Menage Sisley“, das der „Lise“ am nächsten kommt,
fühlt man schon deutlicher die Grenzen der Mittel, auch wenn sie
nicht ernstlich den Gefühlsinhalt des schönen Werkes gefährden. Die
weiche Lyrik stößt sich gleichsam hier und da an den Härten der
Form. Dies einsehend, lockert Renoir immer mehr das Gefüge, und
nun treten die Lücken immer merkbarer hervor. Unter dem Einfluß
Delacroix’ beginnt er weicher zu modellieren und die dunkle Palette
Courbets zu erweitern. Diese Bereicherung hat ihn während drei
oder vier Jahren die Frische gekostet, die er vorher besaß. Die
Einzelheit büßt die primitive Härte ein, aber die Geschlossenheit
des Ganzen geht verloren. In dem Bildnis der Dame in dem aus-
geschnittenen roten Kleid mit schwarzen Spitzen, von 1870, über-

*) Früher in der Sammlung Maitre in Paris. Seit etwa zehn Jahren in der
Sammlung E. Arnhold in Berlin.

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