gilt von der Entwicklung Renoirs, was von der Entwicklung der
Menschheit gilt. Sie geht nicht ohne Opfer vor sich. Man sieht
nicht ein Ganzes in allen Teilen stärker, reiner, reicher werden,
sondern bemerkt neue Höhen an Stelle der alten und muß sich mit
der Einsicht zufriedengeben, daß jedes hohe Werden aus eigener
Kraft den Wert des Lebens erhöht.
In den „Filles de Catulle Mendes“ steckt nicht der ganze
Renoir. Die Strenge des Strichs schloß manche Reize früherer
Zeiten aus. „Au piano“ und manche anderen Bilder aus der
ersten Hälfte der neunziger Jahre verraten eine gewisse Enge der
Anschauung. Renoir hatte sich festgerannt. Er fühlte es und
machte sich frei. Er mäßigt die scharfe Zügelung des Genius,
öffnet wieder die Form, und das Resultat ist eine neue Blüte.
Das klingt einfach wie ein Rechenexempel. Eine Form öffnen
und schließen — man kann kein leichter zum Verständnis sprechen-
des Bild finden. Vergessen wir nicht, daß es sich eben nur um
ein sprachliches Bild handelt, das von dem Phänomen nur die
rohen Umrisse andeutet. So einfach die Lösung uns Zurück-
blickenden dünkt, weil sie dem Meister glückte, so undurchdring-
lich mag sie ihm vorher erschienen sein. Es dauerte Jahre, bis
er sie fand, oder besser, bis sie sich ihm darbot, denn es ist die
Frage, ob nicht allein schon die volle Bewußtheit des Suchenden
genügt hätte, um sie zu vereiteln. Die neue Entwicklung beginnt
etwa um 1895 und zieht sich, bis sie zur Höhe gelangt, bis nach
1900 hin. Es ist eine Periode des Tastens. Man kann sie nicht
unfruchtbar nennen. Ein einziges Bild, wie das schlafende nackte
Mädchen von 1897*), ein letzter und glänzend gelungener Versuch
einer weitgetriebenen Modellierung mit dichter Materie, würde
ihren Wert sichern, und es steht nicht allein. In diese Zeit
fallen viele Zeichnungen und Pastelle, und es käme ein stattliches
Werk zusammen, wollte man allein das sammeln, was Renoirs
frohe Laune dem Papier anvertraut hat**). Immerhin sind diese
*) Sammlung der Mlle. Dieterle, Paris. Hier abgebildet.
**) Eins der schönsten Pastelle stellt die Bonne Renoirs mit seinem zweiten
Sohne Jean und einem anderen Kinde dar und entstand gegen 1894 (Sammlung
J. und G. Bernheim). Auch das graphische Werk ist nicht unbedeutend. Es um-
faßt einige Radierungen und Vernis-mou-Ätzungen und etwa zwanzig einfarbige
und mehrfarbige Lithographien und entstand im wesentlichen in den beiden letzten
Jahrzehnten. Die schönsten farbigen Lithographien, meistens nach Kompositionen,
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Menschheit gilt. Sie geht nicht ohne Opfer vor sich. Man sieht
nicht ein Ganzes in allen Teilen stärker, reiner, reicher werden,
sondern bemerkt neue Höhen an Stelle der alten und muß sich mit
der Einsicht zufriedengeben, daß jedes hohe Werden aus eigener
Kraft den Wert des Lebens erhöht.
In den „Filles de Catulle Mendes“ steckt nicht der ganze
Renoir. Die Strenge des Strichs schloß manche Reize früherer
Zeiten aus. „Au piano“ und manche anderen Bilder aus der
ersten Hälfte der neunziger Jahre verraten eine gewisse Enge der
Anschauung. Renoir hatte sich festgerannt. Er fühlte es und
machte sich frei. Er mäßigt die scharfe Zügelung des Genius,
öffnet wieder die Form, und das Resultat ist eine neue Blüte.
Das klingt einfach wie ein Rechenexempel. Eine Form öffnen
und schließen — man kann kein leichter zum Verständnis sprechen-
des Bild finden. Vergessen wir nicht, daß es sich eben nur um
ein sprachliches Bild handelt, das von dem Phänomen nur die
rohen Umrisse andeutet. So einfach die Lösung uns Zurück-
blickenden dünkt, weil sie dem Meister glückte, so undurchdring-
lich mag sie ihm vorher erschienen sein. Es dauerte Jahre, bis
er sie fand, oder besser, bis sie sich ihm darbot, denn es ist die
Frage, ob nicht allein schon die volle Bewußtheit des Suchenden
genügt hätte, um sie zu vereiteln. Die neue Entwicklung beginnt
etwa um 1895 und zieht sich, bis sie zur Höhe gelangt, bis nach
1900 hin. Es ist eine Periode des Tastens. Man kann sie nicht
unfruchtbar nennen. Ein einziges Bild, wie das schlafende nackte
Mädchen von 1897*), ein letzter und glänzend gelungener Versuch
einer weitgetriebenen Modellierung mit dichter Materie, würde
ihren Wert sichern, und es steht nicht allein. In diese Zeit
fallen viele Zeichnungen und Pastelle, und es käme ein stattliches
Werk zusammen, wollte man allein das sammeln, was Renoirs
frohe Laune dem Papier anvertraut hat**). Immerhin sind diese
*) Sammlung der Mlle. Dieterle, Paris. Hier abgebildet.
**) Eins der schönsten Pastelle stellt die Bonne Renoirs mit seinem zweiten
Sohne Jean und einem anderen Kinde dar und entstand gegen 1894 (Sammlung
J. und G. Bernheim). Auch das graphische Werk ist nicht unbedeutend. Es um-
faßt einige Radierungen und Vernis-mou-Ätzungen und etwa zwanzig einfarbige
und mehrfarbige Lithographien und entstand im wesentlichen in den beiden letzten
Jahrzehnten. Die schönsten farbigen Lithographien, meistens nach Kompositionen,
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