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Meurer, Moritz
Pflanzenformen: vorbildliche Beispiele zur Einführung in das ornamentale Studium der Pflanze; zum Gebrauche für Kunstgewerbe- und Bauschulen, Technische Hochschulen und höhere Unterrichtsanstalten sowie für Architekten und Kunsthandwerker — Dresden, 1895

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https://doi.org/10.11588/diglit.43158#0017
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Bedeutung der Naturformen in den tektonischen
und technischen Künsten.

Die bildenden Künste lassen sich in zwei Gruppen sondern, von denen die eine diejenigen
Künste umfasst, welche nur durch und in sich selbst wirken: die selbständigen Künste der Plastik
und Malerei, während die andere jene Künste in sich schliesst, welche sich in den Dienst be-
sonderer Zwecke stellen. Die letzteren bezeichnen wir als die tektonischen und technischen
Künste. In diesem Namen fassen wir alle Bethätigungen zusammen, welche aus irgendwie bildsamen
Stoffen künstlerische Erzeugnisse schaffen, mögen sie nun für die Bedürfnisse, den Gebrauch und
Schmuck des Leibes und Lebens dienen oder sich als sichtbare Male der geistigen Entwickelung des
Menschengeschlechtes darstellen.
Wenn wir nun finden, dass alle bildenden Künste die Formen der uns umgebenden, sinnlich
wahrnehmbaren Erscheinungswelt, insbesondere aber die der natürlichen, in den Bereich ihrer Dar-
stellung ziehen, so zeigt sich ebenfalls ein Unterschied in der Art und Weise, wie sie es thun. Während
das Wesen der selbständigen Plastik und Malerei darin besteht, dass sie für den Ausdruck ihrer Ideen
jederzeit an die Darstellung dieser sichtbaren Erscheinungswelt gebunden sind, so können die tech-
nischen Künste zwar auch in weitestem Umfange von ihren Vorbildern Gebrauch machen, sie können
und dürfen sich aber nicht an dieselben binden. Die technischen Kunstwerke können nur aus Form-
gedanken, aus Erfindungen entspringen, welche die eigensten Zwecke des Kunstwerkes und die An-
forderungen, welche wir an dasselbe stellen, in vollkommener Weise erfüllen. Diese Anforderungen
sind aber so besonderer Art, dass ihnen die Formen unserer Erscheinungswelt nur in den wenigsten
Fällen völlig entsprechen.
Ein Gemälde, ein Werk der Bildhauerei im engeren Sinne kann sich, so idealer und abgezogener
Art auch der Inhalt dieser künstlerischen Schöpfung sein mag, nur durch die Wiedergabe geschauter
Dinge verständlich machen und deshalb deren Kreis nicht überschreiten; die Werke der technischen
Künste, ihre grössten wie kleinsten, vom umfassenden, aus verschiedenen Werkstoffen gebildeten Bau-
werke bis herab zum einfachsten Gebrauchsgegenstande, müssen dagegen selbständige Formen für
ihren jeweiligen Zweck schaffen.
Wenn wir aber auch in den technischen Künsten aller Zeiten und Völker die Vorbilder unserer
Erscheinungswelt und zwar in reichstem Masse angewendet finden, so sehen wir sie doch immer nur in
einer bedingten Weise benutzt, in einer Weise, welche sie den Ideen ihrer Werke unterordnet: ihre
Nachbildung ist immer nur ein Mittel zum Zweck. Innerhalb dieser Grenzen ist aber auch in den

Unterschied
zwischen den tech-
nischen und
selbständigen
Künsten.
 
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