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Meurer, Moritz
Pflanzenformen: vorbildliche Beispiele zur Einführung in das ornamentale Studium der Pflanze; zum Gebrauche für Kunstgewerbe- und Bauschulen, Technische Hochschulen und höhere Unterrichtsanstalten sowie für Architekten und Kunsthandwerker — Dresden, 1895

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https://doi.org/10.11588/diglit.43158#0064
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Das naturalistisch-
perspektivische
Zeichnen
der Pflanze.

Studium
des Organismus
und der Struktur
der Pflanze.

Perspektische
Darstellung der
Pflanze. Studium
der Blattüberfälle.

keineswegs (eine Absicht, welche von manchen Seiten dem Verfasser unterstellt wurde) zur Konstruierung
von »Normalformen« zu fuhren, sondern es ist im Gegenteil gerade geeignet, im allgemeinen Schema
auch das Individuelle zu erkennen und künstlerisch zu nutzen. Der Künstler kann sich den Formen-
kanon eines bestimmten Exemplares als den für die Darstellung festzuhaltenden, beliebig wählen und
sich ihm auf das engste anschliessen, mit Hilfe der anderen Originale aber die Gesetze der allgemeinen
Gestaltungselemente der Gattung vor Augen halten und dadurch die Missbildungen und Abweichungen
im ersteren leichter wahrnehmen.
Darf das naturalistisch-perspektivische Zeichnen der Pflanze schon als gebotene Er-
gänzung der projizierenden Darstellung nicht beiseite gelassen werden, so ist es unentbehrlich für den
Ornamentiker, welcher sich der Naturformen in freiererWeise bedienen kann: für den Musterzeichner,
Maler und alle dem Flächenschmuck dienstbaren Künstler, nicht minder aber auch für den plastischen
Bildner, welcher ihre Formen in das Flachrelief zu übertragen gezwungen ist.
Bei diesem Studium, welches vor allem an der lebenden Pflanze zu üben ist, wird der grösste
Wert auf eine liebevoll nachempfindende, sich ganz in die Eigenart des Objektes versenkende Nach-
bildung zu legen sein: das Charakteristische im Wesen der Pflanze, der Reiz der Überschneidungen
und Verkürzungen ihrer Glieder, selbst die Eigentümlichkeiten ihrer Zufallserscheinungen sind so treu
und naiv als möglich zu erfassen. Die verschärfte Beobachtung des Individuellen in der Pflanze bietet
das beste Mittel, auch in der stilistischen Abziehung und Verallgemeinerung ihrer Formen lebensvoll
zu bleiben und nicht schematisch zu verflachen.
Neben den Einzelgliedern der Pflanzen wird sich das Studium besonders mit den Erscheinungen
ihrer Verbindung beschäftigen müssen. Namentlich werden die Ansätze der Organe am Stengel oder
an den seitlichen Achsen der Pflanze zu beachten sein, da ihre unendlich wechselnden Vorbilder für die
logische Verbindung der einzelnen Glieder des Ornamentes allen technischen Künstlern von gleicher
Wichtigkeit, ihre Formen überall und jederzeit brauchbar sind. Wesentlich kommt dabei der Übergang
des Stengelgerippes in Stiele und Blätter, Blüten und Fruchtformen u.s.w in Betracht, wie denn über-
haupt das Berippungssystem der Pflanze nicht bloss in den Blattformen, sondern als Grundlage für
den Bau aller Glieder, erhöhte Aufmerksamkeit verdient. Ebenso sind die Schäfte der Pflanzen
mit den Üormen ihrer Querschnitte und Längsgliederungen, ihre Knotenzonen und die dieselben um-
gebenden und festigenden Organe, sowie jene ihnen unmittelbar angeschlossenen Blattformen von
künstlerischem Interesse, welche zur Stütze und zum Schutze der Verzweigungen und der Sprossen
dienen: die Knospenschuppen, die Trag-, Deck- und Hüllblätter, die Blattscheidenstiefel und
-düten und alle jene breitfüssigen, statisch wirkenden Organe, deren Formen namentlich im
plastischen Ornamente der Architektur und der Kleinkunst seit der Antike einen grossen Ein-
fluss gewonnen haben. Aus diesem Grunde sind diese Glieder neben den früher schon erwähnten
geschlossenen Gesamtformen für die plastischen Studien aller kunstgewerblichen Zweige zu em-
pfehlen, welche mit der Bildung von Möbel-, Gerät-, Gefäss- und architektonischen Zierformen
thun haben.
Während der Formenkreis der künstlerisch verwertbaren Vorbilder für diese Berufszweige schon
durch Material und Technik enger begrenzt ist, erweitert er sich für den textilen Ornamentiker schon
ausserordentlich und wird unbeschränkt für den durch seine Darstellungsmittel am wenigsten gebun-
denen Maler. Können diese Künste daher auch den weitesten Gebrauch von der Pflanzenwelt machen,

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