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Meurer, Moritz
Pflanzenformen: vorbildliche Beispiele zur Einführung in das ornamentale Studium der Pflanze; zum Gebrauche für Kunstgewerbe- und Bauschulen, Technische Hochschulen und höhere Unterrichtsanstalten sowie für Architekten und Kunsthandwerker — Dresden, 1895

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https://doi.org/10.11588/diglit.43158#0083
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erheben, eine mathematische Klarlegung derselben zu geben; dem Verfasser hat sich wohl die
Ahnung eines Gesetzes dieser Erscheinungen aufgedrängt, zu einer Feststellung desselben konnte
ihm aber auch die botanische Wissenschaft nicht verhelfen. Allerdings hat er versucht, die Be-
ziehungen der Massverhältnisse von Rippenlängen und Rippenzwischenräumen nach dem künstlerischen
Gefühl richtig wiederzugeben.)
Neben den formgebenden Wirkungen der Schwerkraft und den proportionellen Eigenschaften
des Längenwachstums der Pflanze ist für die Bildung des Blattes auch ihr Streben: einerseits nach
möglichster Ausnützung des für ihr Wachstum zur Verfügung stehenden Raumes, andererseits nach
möglichster Freilegung aller ihrer Organe, von Bedeutung.
Diese Eigenschaft der Pflanzen, den jeweilig verfügbaren Raum für die Entwickelung ihrer
Organe durch die Art ihrer Bildung auszunutzen, ohne ihnen durch gegenseitige Bedeckung die
für ihre Entwickelung und Erhaltung notwendigen Bedingungen (Licht, Luft, Feuchtigkeit u. s. w.)
zu entziehen macht sich in ihrem Gesamtbau wie in der Ausgestaltung ihrer einzelnen Teile und
deren Gliederung, namentlich auch ihrer Laubblattbildungen fühlbar. Die Pflanze dehnt das Wachstum
ihrer Glieder in der Richtung aus, wo ihm Platz gewährt ist, schränkt es aber ein und unter-
drückt es, wo sich eine gleichmässige Ausbildung ihrer Organe gegenseitig hinderlich wäre.
Anpassung der Formen an den Raum möchte der Künstler mit dem Gedanken an ähnliche Bildungs-
bedingungen innerhalb der Kunstformen diese Eigenschaft nennen, welche in der Natur als ein
gegenseitiger Kampf um denselben erscheint. Die unsymmetrische Formung der Glieder, welche
aus dieser Anpassung entspringt, zeigt sich aber nicht in den beiden Hälften der Hauptachsen,
sondern nur innerhalb ihrer weiteren Teilungen z. B. in den Seitenlappen des Blattes und zwar
um so mehr, als die seitlichen Achsen der Organe einen Winkel mit der Hauptachse bilden, der
von dem rechten abweicht. (Vergl. spätere Beispiele.)
Die Wechselwirkung dieser Wuchseigenschaften, das Streben nach Massengleichgewicht,
welches Regelmässigkeit und Symmetrie im Gefolge hat und die Anpassung der Form an den Raum,
welche Ungleichmässigkeit der Formentwickelung hervorbringt, das Ineinanderwirken von Gesetz
und scheinbarer Willkür, ergiebt im Zusammenhänge mit den proportionellen Erscheinungen des
Blattes, welche hauptsächlich im Skelettbau ihren Ausdruck findet, die ausserordentliche Formen-
mannigfaltigkeit und den eigentümlichen Reiz der Einzelbildungen, welche in den Laubblättern zu
Tage treten.
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Dem technischen Kunstjünger giebt schon die Betrachtung der Flacherscheinung der Laub-
blätter mannigfache Lehren für die Bedingungen seiner künstlerisch bildenden Thätigkeit. Vor
allem ist die Erkenntnis des Gerippes als der Grundlage der Formbildung von demselben Nutzen
für ihn, wie die Erkenntnis des menschlichen Knochengerüstes in seiner Einwirkung auf die Ober-
fläche der Formen und die ganze proportionelle Gliederung des Menschenleibes. Das Begreifen
von Ursache und Wirkung in den Pflanzenformen ermöglicht nicht bloss ein organischrichtiges Dar-
stellen der natürlichen Erscheinung selbst, sondern fördert auch das Feingefühl für eine gleich-
organisch gegliederte und damit schöne Bildung der aus ihnen entwickelten Kunstformen.
Die wachsenden und abnehmenden Massverhältnisse der Rippen und ihrer gegenseitigen
Zwischenräume in Bezug auf die Proportion der Blattgesamtform, die Einwirkung ihrer verschiedenen
Grösse, Stellung, Verzweigungsart, ihrer geraden oder gebogenen Linienführung auf die Proportionen,
die Richtung und wechselnde Kurvenbildung der Lappen und Zacken, Buchtungen und Einschnitte
 
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