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Meurer, Moritz
Pflanzenformen: vorbildliche Beispiele zur Einführung in das ornamentale Studium der Pflanze; zum Gebrauche für Kunstgewerbe- und Bauschulen, Technische Hochschulen und höhere Unterrichtsanstalten sowie für Architekten und Kunsthandwerker — Dresden, 1895

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https://doi.org/10.11588/diglit.43158#0200
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welche die Bewegung der Blattfläche aller fiederteiligen Blätter und zwar um so mehr beeinflusst, je
senkrechter sie dem Stamme oder dem Boden entspriessen. Es drehen sich bei dieser Stellung die
seitlichen Lappen am unteren Teile der Mittelrippe derartig in ihren Ansätzen, dass ihre Flächen nahe-
zu horizontal, also in einem mehr oder minder starken Winkel zur Mittelrippe und Blattfläche zu liegen
kommen; je mehr sich die Blattkurve der Horizontale nähert, um so geringer werden diese Winkel;
im wagerecht liegenden Kopfteile des Blattes verschwinden sie ganz. (Vergl. das Stengelblatt des
Acanthus longifolius auf Tafel 39 und das Grundblatt des A. mollis auf Tafel 42, 43.) Diese Lappen-
drehung hat ihren Grund in dem Bestreben der Pflanze, ihre Blätter möglichst wagerecht dem Lichte
der Sonne, für die Aufnahme der Feuchtigkeit u. s. w. auszubreiten. An den Teilen des Blattes, wo
seine Stellung nicht horizontal ist, suchen wenigstens die Lappen die dem Blatte günstige Ebene zu
gewinnen. Um die Drehung der Lappen möglich zu machen entwickelt sich an den Drehungsstellen,
am meisten also zwischen den unteren Lappen und abnehmend nach oben das Blattfleisch in grösserer
Ausdehnung, so dass sich, wenn das Blatt flach gelegt wird, Wölbungen unter den Ösen der Buch-
tungen bilden. (Vergl. Taf. 34, 35.) Diese pfeifenartigen Auswölbungen, welche häufig von seitlichen
Rippen eingefasst und dadurch noch mehr markiert werden, verwertete die antike Kunst zur Belebung
des stilisierten Akanthusblattes. Ähnliche Wölbungen des Blattfleisches zwischen den Rippen finden
sich auch an anderen Teilen der Blätter und geben seinem Relief ein eigentümliches Gepräge.
* *
Nicht minder wie seine Flächenerscheinung ist auch die Bewegung und das Relief des Laub-
blattes in seinem wechselnden Formenspiele, sowohl als rein formales Motiv, wie auch zum Ausdruck
bestimmter Ideen von der Kunst verwertet worden. So wird ganz besonders die Kurve des Blattüberfalles
als ein bildlicher Ausdruck der Wechselwirkung von Wuchskraft und Eigenschwere in solche Kunst-
formen übertragen, welche einen ähnlichen Kampf von Kräften zur Erscheinung bringen müssen. Die
meisten Architekturglieder, in denen sich die Begegnung und ein Konflikt von stützenden und lasten-
den Kräften geltend macht, bedienen sich deshalb des Blattüberschlages als eines anschaulichen Gleich-
nisbildes des Widerstreites dieser Kräfte zu ihrer ornamentalen Ausbildung. Auch im Auge des naiven
Beschauers erweckt der Umschlag des Kapitellblattkranzes und der Blattreihungen im Kymateon ein
wenn auch unbewusstes Gefühl der Wechselwirkung von Stütze und Last, und eine gleiche Wirkung
machen die verschiedensten Bilder solcher Überschläge in den tragenden Gliedern der Geräte. Solche
pflanzlichen Gleichnisbilder, in denen sich die Idee des Weichens unter einem Drucke, gleichzeitig aber
auch die Kraft eines lebendig-elastischen Widerstandes anschaulich macht, wurden nachdem sie zuerst
in der antiken Kunst in scharf bewusster Weise Form gewonnen hatten, als unersetzliche Typen von
allen nachfolgenden Stilperioden bis in unsere Zeit am Endpunkte tragender Glieder in Architektur und
Gebilden der Kleinkunst in unzähligen Variationen wiederholt. Ebenso wird das Motiv der natürlichen
Blattüberfälle aber auch in seiner rein ornamentalen Erscheinung schon um des linearen Reizes willen,
welcher ihnen in ihren wechselnden Überschneidungen zu eigen ist, von der Kunst überall an Schmuck-
formen angewendet, wie z. B. in den leichten Überfällen freier Endigungen, in den Blattbüschen, welche
 
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