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Meurer, Moritz
Pflanzenformen: vorbildliche Beispiele zur Einführung in das ornamentale Studium der Pflanze; zum Gebrauche für Kunstgewerbe- und Bauschulen, Technische Hochschulen und höhere Unterrichtsanstalten sowie für Architekten und Kunsthandwerker — Dresden, 1895

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https://doi.org/10.11588/diglit.43158#0269
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Blätter häufig stark hervortretende Wölbungen oder Grate, deren Relief die ohnehin plastisch sehr
verwertbare Form des ganzen Stempels wesentlich steigert. (Vergl. Textzeichnung zu Tafel 58.)
* *
Die Bedeutung der Blüte im Ornament kann hier nicht mehr verfolgt werden, wie die der Blätter,
daher sei nur angedeutet, dass sie, abgesehen von ihrer mehr naturalistisch dekorativen Anwendung,
hauptsächlich nach drei Richtungen die Kunstformensprache beeinflusst hat; und zwar; in ihrer Hori-
zontalprojektion, in ihrer Vertikalstellung und in ihrer raumöffnenden Erscheinung.
In ihrer Horizontalprojektion verkörpert die Blüte als Rosette durch ihre strahlenförmig
sich von einem Mittelpunkt entwickelnde cyklische Form centrale Bildungsideen innerhalb der Kunst-
formen. Sie wirkt in diesem Falle hauptsächlich als Füllung neutraler und richtungsloser Flächen.
In diesem Sinne bildet sie die Füllung der wagerechten Deckenkassette wie die der senkrechten Metope.
In dieser Erscheinung treten die äusseren, umgebenden Blattkreise der Blüte mit den füllenden inneren
Organen in wirksamen Gegensatz, doppelt wirksam in plastischer Darstellung durch den Wechsel der
flacheren, getrennten Bildung der ersteren, gegen das kompaktere, konvexe Relief des Fruchtknotens.
In ihrer Vertikalstellung spricht die Blüte vorwiegend Gedanken der Richtung, des Ab-
schlusses und der freien Endigungen aus. Während die wagerechte Erscheinung der cyklischen
Blüte infolge ihrer vom Mittelpunkt ausstrahlenden Organe allseitige Richtung und daher gleichzeitig
Richtungslosigkeit ausprägt, so entspricht das Profilbild derselben, vermöge seiner proportionellen
Erscheinung dem Begriff der einseitigen Richtung; in Bezug auf seine endständige Stellung aber dem
Gedanken der freien Endigung.
Drückt das Laubblatt den Begriff der Richtung nur in der Fläche aus, so verkörpert ihn die
Blüte in centraler Vollbildung. Daher das Blatt nur als freie Endigung nach einer Seite, die Blüte
aber als runder, von allen Seiten wirkender Abschluss dienen kann. So formt sie sich zum Kopf der
Säule (Lotoskapitell) zum Abschluss des Kandelabers; so bildet sie ausklingende Formen in der
gotischen Kreuzblume und dem blütenartigen Dachaufsatze eines antiken Rundtempels, in dem End-
knopfe eines Gefässdeckels oder eines Herrscherstabes.
Die symmetrische Blüte kann infolge ihres Baues natürlich nie in der Flächenprojektion als
Rossette, wohl aber, gemäss ihrer seitlichen Stellung am Stamme, sehr wirksam zu freien Endigungen
seitlicher Richtung verwertet werden.
Die raumöffnende und zugleich umfassende Eigenschaft der Blüte ist endlich in ihren
äusseren Blattkreisen (dem Perigon) ausgesprochen; sie ist nicht minder einflussreich auf die Gestaltung
ideenverwandter Kunstformen geworden. Die in den wechselnden Kurven sich darstellenden Hohl-
formen und Flächen ihrer Blumenkrone bieten unerschöpfliche Vorbilder sowohl für die Formbildung
der Geräte und Gefässe selbst, wie für deren ornamentale Dekoration. Bildet doch die Blume selbst
gewissermassen ein Gefäss, welches die wichtigsten Organe der Pflanze schützend umgiebt und be-
wahrt. Indem sie sich gleichzeitig der Sonne und dem Lichte erschliesst, befruchtenden Tau in sich
aufnimmt, ihren Samen verstreut, dem Ein- und Austritt des nahrungsuchenden Insektes sich öffnet,
 
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