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Meurer, Moritz
Pflanzenformen: vorbildliche Beispiele zur Einführung in das ornamentale Studium der Pflanze; zum Gebrauche für Kunstgewerbe- und Bauschulen, Technische Hochschulen und höhere Unterrichtsanstalten sowie für Architekten und Kunsthandwerker — Dresden, 1895

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https://doi.org/10.11588/diglit.43158#0348
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Gerippes aut die Längsgliederung des Stengels lässt sich an vorliegenden Schnitten deutlich erkennen.
Die dichte Anordnung der halbmondförmigen Schnitte des Stereoms in der ersten Figur (Blütenschaft
des Arum maculatum achtmal vergrössert' erzeugt einen gleichmässig gewellten Stengelschnitt: an den
Stellen, wo die festeren Baststrähne liegen, wölbt sich die Form des Randes, zwischen denselben sinkt
sie ein. Die Ringform des Skelettes im danebenstehenden Stengelschnitte des Allium vinale (iömal
vergrössert bildet dagegen einen gleichmässig runden Schaft. Die mit ihrem Längsdurchmesser in
\ erschiedenen Abständen gruppierten, keilförmigen Schnittformen des Skelettes der beiden Mittel-
figuren links: V\ iesenfuchsschwanz 55 mal vergrössert, rechts: blaue Pfeifenbinse 20mal vergrössert
erzeugen bei der ersten Pflanze breite, dorischflache Stengelfurchen, bei der zweiten leichtere und
schmälere Kanneluren. Den kräftigen Skelettbiindeln der untersten linken Figur (Eriocaulon, 30 mal
vergrössert) entsprechen die acht kräftigen Gratbildungen des Stengels wie die flachkantige Schaftgliede-
rung des Schachtelhalms der geschlossenen Lagerung seines Gerippes [Equisetum hiemale 2 2 mal ver-
grössert .
Je nach der Gruppierung und jeweiligen Querschnittsform der einzelnen Skelettstränge bildet
sich also auch der Querschnitt des ganzen Stengels und damit das Relief der Längsgliederungen des-
selben in verschiedenster Weise, bald zu tieferen und schmäleren, bald zu flacheren und breiteren
Furchen, zu spitzwinkligen oder runden Einschnitten, zu kantigeren oder stumpferen Gratbildungen
und Stegen aus. Bisweilen alternieren auch verschiedene Schnittformen der Strähne, so dass grössere
und kleinere Kanneluren, breite und schmale Rundstäbe am Pflanzenschafte abwechseln.
Von den Knoten, denen die Anhangsorgane des Stengels entspringen, lösen sich einzelne Strang-
teile des mechanischen Gerippes ab. Aus ihnen bildet sich das Skelett dieser Anhangsorgane (Zweige,
Blätter, Scheiden u. s. w.), welches sich nach den Endpunkten der Organe immer weiter zerteilt und
wie das Stengelgerippe selbst in seinem Verlaufe gleichmässig verjüngt.
Die Knoten selbst, welche durch, in Hohlschäften deutlich sichtbare Querscheiben verfestigt
sind, treten bisweilen als kräftige Gliederungen plastisch hervor. Über ihnen ist öfter eine mindere
Verjüngung des Pflanzenschaftes zu bemerken, eine scheinbare Schwellung: »Entasis«.
Diese Formelemente des Stengels, die Verjüngung, Schwellung, Knotenbildung, wie überhaupt
alle Längs- und Quergliederungen desselben, wurden seit frühesten Zeiten zur ornamentalen Gliederung
schaftartiger Formen der Architektur und der Kleinkunst oft in unmittelbarster Weise verwertet. Die
Entasis und das festigende Gerippe des Pflanzenschaftes liehen die Bilder für die unbeugbare Festig-
keit stützender Architekturglieder und die Verjüngung des Stengels in Verbindung mit seiner Längs-
gliederung für die aufwärtsstrebende Richtung derselben.
Alle senkrechten Gliederungen des Stengels in ihren ausspringenden wie einschneidenden Er-
scheinungen: die flachen dorischen Furchungen, wie die durch Stege getrennten tieferen Kannelierungen,
die rundlichen Stäbchen wie die stark ausspringenden Gratbildungen, die Wellungen wie die winkligen
Einschnitte wurden in die Schaftformen freitragender Stützen oder stengelartig sich streckender Orna-
mente übergeführt. Die Gliederung der Säulen, Pfeiler, Triglyphen, Vasenfüsse und Untersätze, der
Stämme von Kandelabern und Stelen, der Spiralenschäfte u. s. w. geben in allen Stilperioden die mannig-
faltigsten Beispiele des Einflusses der natürlichen Stengelgliederung auf die künstlerischen Schaftformen.
 
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