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Meurer, Moritz
Pflanzenformen: vorbildliche Beispiele zur Einführung in das ornamentale Studium der Pflanze; zum Gebrauche für Kunstgewerbe- und Bauschulen, Technische Hochschulen und höhere Unterrichtsanstalten sowie für Architekten und Kunsthandwerker — Dresden, 1895

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https://doi.org/10.11588/diglit.43158#0383
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Abt. iv. Tafel 66. Schaft mit röhrenartig ansetzenden
Blättern.
Pfeilrohr, Arundo Donax.
Nicht alle Pflanzenstengel wachsen an ihren freien Endigungen akropetales Wachstum ,
sondern sie verlängern sich bisweilen auch durch Zellbildungen über den Ansatzstellen der Blätter inter-
callares Wachstum). Wegen des während der Wachstumszeit weicheren Zustandes dieser Stengel-
teile sind dieselben zu ihrem Schutze mit Blättern umgeben, deren unterer Teil festumschliessende,
kräftige Röhren bildet, um das Umknicken des Halmes an den gefährdeten Stellen zu verhindern.
Solche Pflanzen sind der Schachtelhalm und die Grasarten. Während der erstere zur Gewinnung dieses
statischen Futterales den dichten Quirlstand seiner schmalen Blättchen vertikal um den Stengel stellt
und zu einem Cylinder verbindet, aus dessen gezähntem oberen Rande noch die Blätterzahl zu erkennen
ist, so formen die Gräser ihre Schutzröhre aus dem Unterteile eines einzigen Blattes, welches sich fast
unlösbar scharf um den zu festigenden Stengelteil wickelt. Über der Röhre erweitert es sich tütenartig
und läuft dann langgestreckt und flach aus.
Das P f e i 1 r o h r ist das grösste Gras Europas (bis 4 Meter hoch und seit dem Altertum als Kultur-
pflanze zu ökonomischen und gerätlichen Zwecken vielfach verwertet worden. Auch in der künstlerischen
Symbolik der Alten spielt es eine Rolle als Kranz der Flussgötter und Quellnymphen, sowie in der
Mythe des Pan und der in Schilfrohr verwandelten Nymphe Syringa, zu deren Erinnerung Pan die
Rohrpfeife zusammenfügte. Seine dekorative Gesamterscheinung hat namentlich den Malern der
italienischen Renaissance ein beliebtes Motiv für ornamental-naturalistischen Schmuck vertikaler Wand-
teilungen (Pilaster u. s. w.) geboten. Ebenso wie manche zusammengerollten Blütenknospen (z. B. der
Calla) wird namentlich von der römischen Kunst auch die Form der Rohrscheide stilistisch verwendet,
um den tütenartig umschliessenden Fussteil der Akanthusdeckblätter in der Rankenspirale organisch
auszubilden. Namentlich giebt das plastische Ornament der römischen Kaiserzeit unzähliche und treff-
liche Beispiele für derartige Deckblattverbindungen mit schaftartigen Formen, welche die Knotenzone
der Grasarten und die eigentümlichen Erscheinungen des Skelettübergangs aus dem Stengel in die
Blattröhre reizvoll und im engsten Anschluss an die natürlichen Vorbilder benutzen.
Nachdem im Text zu Tafel 61 einige Beispiele der Anordnung des Bastskelettes im Pflanzen-
schafte gegeben worden sind, sei hier die Lagerung und Wirkung desselben in den Blattscheiden-stielen
und -flächen angedeutet.
Wenn wir gesehen haben, dass schon die allgemeine Querschnittsform der das Blatt tragenden
Organe ihrem statischen Zwecke entspricht, so finden wir, dass auch die Anordnung und Querschnitts-
form der Skelettstränge in Scheide, Stiel und Nerven des Blattes den Anforderungen des Widerstandes
gegen die zu tragende Last in zweckmässigster Weise gerecht wird. Während der Stengel durch Wind-
druck, ungleiche Belastung und andere Einflüsse nach allen Seiten gebogen werden kann und deswegen
sein Skelett ringförmig, allseitig gleichmässig verteilt ist, so wirkt in der seitlichen Verzweigung der
Druck der Eigenschwere nur in der vertikalen Richtung von oben nach unten; der obere Teil der seit-
lichen Organe ist demgemäss einem Zuge (einer Ausdehnung seiner Flächen unterworfen (Zuggurtung',
 
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