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Meurer, Moritz
Pflanzenformen: vorbildliche Beispiele zur Einführung in das ornamentale Studium der Pflanze; zum Gebrauche für Kunstgewerbe- und Bauschulen, Technische Hochschulen und höhere Unterrichtsanstalten sowie für Architekten und Kunsthandwerker — Dresden, 1895

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https://doi.org/10.11588/diglit.43158#0389
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ungleicher Ernährung ihrer einzelnen Teile, in den wechselnden Einflüssen der Temperatur und
namentlich in dem Raummangel für die allseitig gleichartige Gestaltung der Einzelorgane zu suchen
sind. Der dichte Wuchs und der daraus hervorgehende gegenseitige Kampf um den Raum, Ungleich-
heiten der Bodenfläche und des seitlich verfügbaren Platzes, verhindern die an ihren Standort gefesselte
Pflanze im Gegensätze zu der frei sich bewegenden Tierwelt, die ihr einwohnenden Entwickelungs- und
Formgesetze in derselben Reinheit zum Ausdruck zu bringen, wie diese. Zur Erkenntnis der Gesetze
in der Pflanze ist dem technischen Künstler daher das Studium der keimenden Pflanzenwelt nicht genug
zu empfehlen. Nicht minder bietet die Mannigfaltigkeit und ornamentale Erscheinung, welche sich in
der keimenden Welt der Sprossen und Knospen erschliesst, das geeignetste Mittel, den Schüler,
welcher sich noch nicht gewöhnt hat, den ornamentalen Kern und die Übertragbarkeit der Naturformen
in die Kunst zu erkennen, von dem Nutzen des Pflanzenstudiums für seine bildnerischen Aufgaben zu
überzeugen.
Die Formen der Knospen geben der Kunst durch die Geschlossenheit ihrer Bilder ähnliche
Typen für centrale, rosettenartige Bildungen wie die Blume, in noch erhöhtem Masse als diese aber
Motive für die Flach- und Rundformen freier Endigungen. Ihre kompakte Hauptform und die
kräftige, noch wenig gegliederte Gestaltung ihrer einzelnen Organe, namentlich ihrer umhüllenden
Organe, machen sie besonders geeignet zu unmittelbarer Übertragung in Werkstoffe, die wie der Stein
eine Nachbildung geteilter und feiner Gliederungen ausschliessen. Aus diesem Grunde sind die Knos-
pen und Sprossformen, namentlich im Mittelalter, für die strengeren und schlichteren Bildungen archi-
tektonischer Abschlüsse einzelner Bauglieder wie ganzer Bauten vorbildlich geworden. Nicht minder als
die Architektur hat aber auch die Kleinkunst, sowohl für die freien Endigungen wie für die Silhouette
ihrer Geräte und Gefässe von den verschiedenen Knospenbildungen der Pflanze weitgehenden Gebrauch
gemacht. Vor allem sind es die Laubknospen der holzartigen Pflanzen, die Stengelsprossen mit an-
liegenden Laubblättern, die Scheiden und Deckblättergruppen der Blütenstandsknospen von Ähren
und Dolden bildenden Pflanzen, die Knospen der mit Hüllblättern umgebenen Kompositen neben vielen
andern Sonderbildungen, welche reiche ornamentale Ausbeute ergeben.
Die rasch wechselnden Stadien der Knospenerscheinungen: des noch vollständig geschlossenen
Knopfes, des Aufbrechens der umhüllenden Organe und der fast sichtbaren Aufwickelung des in ver-
schiedenen Formen innerhalb der Knospe fächerartig oder spiralig zusammengefalteten Sprosses, geben
ebensoviel Bilder von reizvollen Übergangsformen, welche künstlerisch oft unmittelbar verwertet
werden können. Besonders interessant und brauchbar für die Reliefbildung ornamentaler Blätter sind
die Momente der Blattentfaltung.
 
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