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Mitteilungen der Gesellschaft für vervielfältigende Kunst — 1909

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https://doi.org/10.11588/diglit.4233#0050
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1. Die rechte Hand des Heiligen
oder besser gesagt der Daumen und das
Handgelenk werden zweimal durch Linien
durchschnitten, welche einmal von dem
Ärmelsaum, ein zweitesmal von dem
Kontur des linken Unterarmes Christi
ausgehen. Derartige Überschneidungen
sind bei einer Zeichnung selbstverständ-
lich, bei einem Holzschnitt aber ganz un-
denkbar. Andere derartige Stellen, wo die
Feder unachtsam über ihr Ziel schoß,
zeigt an dem linken Kreuzbalken der
untere Kontur, welcher in den Nimbus
hineinstößt; ebenso die mittlere Linie
des vertikalen Balkens, welche über den
Umriß des Leibes Christi geht; ebenso
der untere Kleidersaum des Heiligen,
und zwar zweimal übereinander und
schließlich an derselben Figur die beiden
sich kreuzenden Linien der Achselhöhle.

2. Einzelne Konturlinien weisen
Pentimente, eventuell Doppellinien auf,
wie sie sich eben durch die verbessernde
Feder bei einer Zeichnung ergeben.
Solche Stellen findet man an dem unteren
Kontur des rechten Ärmels des heiligen
Bernhard, an der großen Faltenspitze,
welche an das Wappen stößt. Bisweilen
decken sich die nacheinander erfolgten
Federzüge nur halb, so daß unten der
zartere blassere, darüber aber, seitlich
etwas verschoben, der stärkere Strich
sitzt. Derartige sich halb deckende, halb
trennende Linien zeigen sich besonders
in den Faltenzügen des Mantels, und ich
möchte sagen, deutlicher in der Repro-
duktion als im Original.

3. Die Striche und Linien tragen an
vielen Stellen das Charakteristische eines
Federzugs, das zarte Ansetzen und das

allmähliche Sichverdicken; öfters das kräftige Hinsetzen kurzer Striche, so wie man etwa einen Beistrich macht;
schließlich das Absetzen und wieder Weiterziehen besonders bei Krümmungen, so oft eben die Hand ihre Lage
wechseln muß. Man betrachte hier die kurzen Schattierungsstriche am Kreuzesstamm und ebenso auf dem Mantel
des heiligen Bernhard, die nur einer Kielfeder entstammen können.

4. Das Fehlen jeder Randlinie, wiewohl das Blatt genug Raum dazu bietet. Daß er abgeschnitten sein könnte, ist
wohl nicht anzunehmen, da die Kompositionen jener Zeit immer knapp in die Umrahmung gezwängt wurden.

Daß die Zeichnung indes an allen Stellen einen gleichmäßigen, einem Drucke ähnlichen Ton aufweist, der bisher
alle getäuscht hatte, läßt sich nur so erklären, daß das Blatt, wie die Rückseite zeigt, ehemals aufgeklebt war und
durch starkes Befeuchten und Naßmachen abgelöst werden mußte. Wahrscheinlich wurde es nachher noch gewaschen
und gereinigt, so daß sich alle dicken Partien der alten Tinte abschwemmten und nur mehr die Substanz, welche in
das Papier gedrungen war, übrig blieb. An manchen Linien, wie zum Beispiel an dem Kreuzsockel, kann man auch
an den unscharfen zittrigen Rändern das Ausfließen der Tintensubstanz konstatieren, wie es selbst eine schon
Jahrhunderte alte Tinte noch zuläßt. Und so verwandelte sich das Individuelle einer Federzeichnung in die mechanische
Gleichmäßigkeit, welche auf die Annahme eines alten Reiberdrucks führte.

Die Zeichnung ist auch kein Originalentwurf, sondern eine Kopie. Den Beweis dafür bildet der harte Widerspruch
zwischen einer wirklich guten Komposition, die hier zugrunde liegt, und der völlig unverstandenen, in einzelnen

Abb. 1. Der sogenannte Reiberdruck (Sehr. 1275), Pausezeichnung.
 
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