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Moderne Bauformen: Monatshefte für Architektur und Raumkunst — 5.1906

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Nr. 1
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Lux, Joseph August: Die Missstände der heutigen Grossstadtanlagen, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.20726#0016
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Die Missstände der heutigen Grossstadtanlagen

ein Gegenstand unseres Entzückens und für die
Bewohner ein ebenso schöner wie gesunder Aus-
blick und Aufenthalt. Architektonisch vornehm
ausgebildet, oftmals durch ein Grünes belebt, ver-
liehen sie dem ganzen Hause den Zauber der Wohn-
lichkeit, der jeden erfasste, der den Hausflur be-
trat. Unsere gipsüberladenen Miethäuser haben
nichts von jener anheimelnden Wohnlichkeit auf-
zuweisen, den protzenden Fassaden entsprechen
gefangenhausmässige, meist luft- und lichtleere
Hintertrakte, die den ironischen Namen „Lichthöfe"
führen. Die Bauordnung schreibt ihnen allerdings
ein gewisses Ausmass vor, und zwar 15% der
Baufläche, aber der findige Bauspekulant führt zwei
Lichthöfe auf, die zusammen jenes Ausmass er-
geben und hat dadurch um so mehr Fensteröffnungen,
für eine um so grössere Anzahl kleiner, minder-
wertiger Wohnungen gewonnen, die man mit der-
selben unfreiwilligen Ironie, die ein Merkmal un-
serer Zeit ist, „billige Wohnungen" nennt. Auch
das ist eine Erfüllung, die die grossstädtische Bau-
weise versprochen hat. Es stimmt mit ihren Er-
füllungsmöglichkeiten überein, dass diese billigen
Wohnungen gerade die teuersten sind. Die Woh-
nungen von ein bis zwei Zimmern sind im Preise
höher als solche von drei und vier und mehr
Zimmern. Der Durchschnittspreis einer Hofwohnung,
bestehend aus Zimmer und Küche, beträgt in Wien
400 Kronen und in Berlin 275 Mark und verschlingt
ungefähr den vierten Teil des Einkommens des
durchschnittlichen Arbeiters oder des kleinen Be-
amten und somit jener Bevölkerungsschicht, die
das Hauptkontingent der Grossstadteinwohnerschaft
ausmacht. Es sind Preise, die einstmals in der
Stadt und heute nur noch fern von ihr das Be-
wohnen eines eigenen, kleinen Häuschens mit
Garten ermöglichten. Es darf dabei nicht vergessen
werden, dass jene fälschlich billig benannten, in
Wahrheit überteuerten Wohnungen, die für das
Kulturleben unentbehrlichen Einrichtungen, wie
Bad und eigenes Klosett entbehren. Die Woh-
nungsenquete sämtlicher Grossstädte führt zur Tat-
sache, dass der arme Mann die höchsten Preise
zahlt. Naturgemäss sind die Miethäuser mit den
sogenannten billigen Wohnungen die besten Speku-
lationsobjekte. Der Aufbau vieler Stockwerke über-
einander , die Ausnützung des Baugrundes zur
Schaffung vieler Wohnungen sollte im Sinne der
grossstädtischen Bauordnungen zur Verbilligung
der Mietpreise führen. Es liegt in der verhängnis-
vollen Logik unserer Wirtschaftspolitik, dass gerade
diese Massregel zum Gegenteil ausschlug und durch
die raffinierte und unlautere Ausnützung des Bau-
grundes die Bodenpreise ins Fabelhafte steigerte,

was wieder verteuernd auf die Mietpreise zurück-
wirkte. Man nennt das mit einem sehr loyal
klingenden Namen „Grösstmögliche Verzinsung des
Baukapitals". Dem verderblichsten Bodenwucher
sind Tür und Tor geöffnet, und seine korrumpie-
rende Wirkung ist in wirtschaftlicher, künstle-
rischer und ethischer Beziehung in gleicher Weise
fühlbar. An dem ehernen Gesetz der „grösstmög-
lichen Verzinsung des Baukapitals" scheitern alle
Bemühungen des Künstlers, dem Dasein der Fa-
milie organisch angemessene Wohnungszustände
zu erschwinglichen Preisen zu verschaffen. Zur
künstlerischen Ohnmacht verurteilt, wird der mo-
derne Architekt bestenfalls vor die unwürdige Auf-
gabe gestellt, im Dienste der Spekulation, die eines
lockenden Aushängeschildes bedarf, eine vielver-
sprechende Fassade zu machen, hinter der sich das
alte Wohnungselend verbirgt. Der wirtschaftlich
schwache Mensch ist lebenslänglich an den gross-
städtischen Wohnungskerker gekettet und jeder
Aussicht benommen, das einzig menschenwürdige
und der geistigen, körperlichen und sittlichen Ent-
wicklung der Familie fördernde Wohnen im eigenen
Häuschen zu erreichen, weil auch die im weiten
Umkreis der Stadt emporschnellenden Grundpreise
jeden solchen Gedanken grundsätzlich ausschliessen.
In jenem Umkreis der Stadt, wo ländliche Verhält-
nisse vorherrschen, und eine Bevölkerung von
Weinbauern und Ackerbürgern eine gewisse boden-
ständige Kultur und Tradition behüteten, löst der
Einfluss der Grossstadt alte wertvolle Sitten und
Kulturbestände auf. Die ohne jedes Zutun oder
persönliches Verdienst des Besitzers emporschnel-
lende Grundrente macht den friedsamen Acker-
bürger über Nacht zum geldgierigen Miethaus-
spekulanten. Die einst so herrlichen Gartenvor-
städte, die Freude, Schönheit und Gesundheit der
Städte, ist grösstenteils verschwunden und keine
Andeutung des einstigen entzückenden Bildes blieb
in den öden grossstädtischen Strassenzeilen erhal-
ten, die an ihrer Stelle aus dem Boden wuchsen.
V Wenden wir uns wieder der Strasse zu. Der
übliche Stadtregulierungsplan hat durch eine üb-
liche Anlage mit breiten geraden Strassen etwas
Besseres schaffen wollen als die unregelmässigen
Alt-Städte oder alten Innenstädte und er hatte sich
dabei wesentlich auf die Forderungen der Hygiene und
Verkehrsfreiheitgestützt. Mehr oderweniger deutlich
erwacht heute das Bewusstsein, dass man eine voll-
kommen verfehlte Stadtanlage erzielt hat. Man hat
lauter Verkehrsstrassen geschaffen und keine Wohn-
strassen. Die meisten der breiten Strassen müssen
naturgemäss verkehrsarm bleiben, und weil keine
übersichtliche Trennung von Verkehrsstrassen und
 
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