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Moderne Bauformen: Monatshefte für Architektur und Raumkunst — 5.1906

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Lux, Joseph August: Die Missstände der heutigen Grossstadtanlagen, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.20726#0018
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Die Missstände der heutigen Grossstadtanlagen

und geringwertige Fälschung. Dasselbe gilt von
einem erheblichen Teil unserer Nährstoffe. Das
sind Fälle, in denen der Missbrauch der chemischen
und technischen Wissenschaft zutage liegt. Logisch
betrachtet, sind jene lügenhaften Stuckverzierungen
unserer Mietkasernen, sowie das Wohnungselend
überhaupt, nur ein Glied in der folgerichtigen Ent-
wicklung, die auf das Unsolide, Täuschende und
Schwindelhafte gerichtet ist. Die Kongruenz der
Erscheinungen lässt sich auf allen Gebieten nach-
weisen, in einer Zeit, die das Surrogat oder die
Bewucherung zu einer erwerbsmässigen Potenz
erhoben hat. Künstlerischerseits macht sich im
einzelnen das Ringen nach einer Moderne geltend,
die nichts weiter ist als gutes und solides Neu-
schaffen. Als ein paar Künstler damit anfingen,
bemächtigte sich die Industrie der Sache, nicht um
eine Moderne zu schaffen in dem Sinne von guter
und solider Arbeit, sondern um eine Mode zu
kreieren, bei der man reichlich zu verdienen hoffte
und die in der unsoliden Nachäffung einiger miss-
verstandenen Ausserlichkeiten bestand. Diesmal
war das Publikum besser als seine Erzieher, es
ging auf den Schwindel nicht ein, und der grosse
Gewinn blieb aus. Das Beispiel ist ergötzlich, als
eine Geschichte vom überlisteten Teufel. Die
Fabrikanten erklärten, die Sache sei ein Schwindel,
weil sich kein Geschäft damit machen Hess, und
die Handels- und Gewerbekammer erklärte es auch.
Sicherlich, sie war ein Schwindel, eine jener miss-
bräuchlichen Umwertungen künstlerischer Ideen zu
blossen Handelszwecken, eine jener Ausschindungen,
die sich der Pöbelverstand als „gemässigte Moderne"
oder der unsolide Händler als Sezession fürs Publi-
kum zurechtrichten. Diese Mode musste kommen
und gehen, damit jene Moderne, die gute und so-
lide Arbeit bedeutet, im einzelnen unbehelligt für
sich wirken kann. V
V Es könnte einer fragen, was diese Erörterungen
mit Städtebau und Bodenwucher zu tun haben.
Sehr viel haben sie damit zu tun. Es leuchtet ein,
dass die Mehrzahl unserer sogenannten berufenen
Bodenreformer, die vermöge ihres wirtschaftlichen
Einflusses das grosse Wort führen, kein Interesse
haben, dass etwas ernstlich reformiert werde. Denn
eine ernstliche Reform müsste vor allem die Wurzel-
krankheit heilen. Da aber Bodenspekulanten und
vielfach verstockte Hausbesitzer im allgemeinen
keine sentimentalen Leute sind, so ist in unserer
Frage für das Wohl der grossstädtischen Mensch-
heit nicht viel zu erwarten, wie übrigens der neu-
lich resultatlos verlaufene Frankfurter Wohnungs-
kongress überflüssigerweise erwiesen hat. Es leuch-
tet nicht ein ? Ich fühle, dass ich für viele deutlicher

werden muss. Die Struktur der heutigen Lebens-
mächte und der Moralverfassung, die sich praktisch
betätigt, ist so beschaffen, als ob es nur gewinn-
süchtige Interessen zu verteidigen gäbe. Was ein
Streben für den wirklichen Aufschwung oder aber
auch für den Rückschritt der Menschheit bedeutet,
kommt in zweiter Linie oder gar nicht in Betracht,
Man ist tagtäglich Zeuge davon, wie Menschen
durch Titel, Verleihung öffentlicher Aemter und
Befugnisse, ehrende Ansprachen ausgezeichnet wer-
den, die nichts als das zweifelhafte Verdienst be-
sitzen, beizeiten ihren materiellen Vorteil verstanden
und gesichert zu haben. Es kommt bei solchen
Ehrungen und Anerkennungen gar nicht in Betracht,
ob ein solches nur auf Selbstbereicherung angelegtes
Tun viel oder wenig für das Heil der Welt bedeutet.
Im herrschenden Krämerverstande ist es für das
Heil der Welt nur von Bedeutung, dass es mög-
lichst viele reiche Leute gibt. Man mag billig
wünschen, dass es deren mehr gäbe, so viele, dass
blosser materieller Besitz nicht als Verdienst und
Anspruch auf Vorrecht angesehen werde. V
V Ein Mensch kann als gewissenloser Fabrikant
fremde Arbeitskraft gebrandschatzt und die Welt
mit Surrogatwerken überschwemmt haben, sein
Wirken mag vom ethischen und ästhetischen Stand-
punkt aus verdammenswert erscheinen, aber er
kann sicher sein, dass gerade dieses Wirken ihn
heutzutage zu den höchsten bürgerlichen Ehren be-
rechtigt, namentlich wenn er eines jener bürger-
lichen Almosen gibt, die man Humanitätsakte nennt.
Ist er Grundbesitzer oder Hausherr, so steht ihm
ein mehr oder weniger direkter Anteil an der Ge-
setzgebung offen. Als Freund der Humanität und
des Fortschrittes gehört er den Bodenreformern an
und führt auf den Wohnungskongressen die Ent-
scheidung. Es leuchtet nun wohl ein, warum Woh-
nungskongresse heutzutage resultatlos verlaufen
müssen. Die Vorherrschaft materieller Interessen
kommt in unserem Wahlrecht überzeugend zum
Ausdruck. In den gesetzgebenden Körperschaften
des Landes und der Gemeinden suchen wir ver-
gebens die für eine gedeihliche künftige Entwick-
lung berufenen Kräfte, deren Augenmerk mehr auf
das Wohl der Allgemeinheit denn auf die Wahrung
von Sonderinteressen gerichtet ist. Vergebens
suchen wir dort die Künstler, die Vertreter der
Wissenschaft und der Technik, denen ein hervor-
ragender Anteil an der künftigen Gestaltung der
Welt zukommt. Wir finden sie dort nicht, denn
die eigentlichen schöpferischen Kräfte, die Künstler,
Forscher und Denker, sind in der Regel arme Teufel.
Man bedient sich ihrer nur selten als untergeordnete
Organe, die man gelegentlich zur Konsultation oder
 
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