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Moderne Bauformen: Monatshefte für Architektur und Raumkunst — 5.1906

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Nr. 3
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Widmer, Karl: Zur Charakteristik des Biedermaierhauses
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https://doi.org/10.11588/diglit.20726#0094
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Zur Charakteristik des Biedermaierhauses

neugegründeten Residenzen in breiten regelmässigen
Strassen angelegt wurden. Jetzt war kein Mangel
mehr an Ausdehnungsfläche. Das gleiche Prinzip,
das für die Anlage der Städte massgebend war,
wurde auch am einzelnen Haus durchgeführt: die
Regelmässigkeit und die Entfaltung in
die Breite. Die Renaissance hatte es für das
Fürsten- und Adelsschloss festgelegt. Je näher wir
an die romanische Heimat des neuen Vorbilds
rücken, desto früher begegnen wir ihm auch in der
reicheren bürgerlichen Baukunst; so z. B. an den
Basler und Berner Patrizierhäusern des 18. Jahr-
hunderts. In Deutschland brachte erst der Einfluss
des zeitbeherrschenden Empiregeschmacks das neue
Prinzip auch am Bürgerhaus zum Sieg. Damit war
die mittelalterliche Form des Wohnhauses endgültig
verlassen. V

V Mit ihr verschwand nun freilich auch ein male-
risches Element aus dem Strassenbild. Für die
Kultur des Wohnens aber bezeichnet die neue Form
gleichwohl den Fortschritt. Die Ausbreitung der
Zimmer über eine oder zwei Etagen ist unter allen
Umständen komfortabler als das Uebereinander-
türmen in vielen engen Stockwerken. Zugleich
bietet die weite und niedere Bauweise die beiden
Grundbedingungen eines gesunden Wohnens, deren
Mangel in den schmalen Gassen und hinter den
hohen Häuserfronten die bedenklichste Schatten-
seite der mittelalterlichen Städteromantik gewesen
war: Luft und Licht! Wie im Innern des Hauses
das Zufällige, durch das augenblickliche Bedürfnis
bedingte, der mittelalterlichen Bauweise einer plan-
volleren und übersichtlicheren Anordnung der
Räume wich, so kehrte man auch am Aeussern zur
Einfachheit der Symmetrie zurück. Ueberhaupt
wurde die Erscheinung des Hauses einfacher und
in diesem Sinne vornehmer. Farbig war das
schlichte Weiss schon durch die allerdings irrtüm-
liche Berufung auf die Antike für die damalige
Anschauung geboten: wo die Mittel zu einem ed-
leren Material, weissem Sandstein oder gar Marmor
fehlten, erreichte man es durch Verputz und An-
strich. Es war das Zeichen eines sehr geläuterten
Geschmacks, wenn diese Einfachheit in Form und
Farbe gerade am Aeusseren des Hauses auf die
Spitze getrieben wurde. V

V Man muss nicht an die Monumentalbauten des
eigentlichen Napoleonstils denken, wenn man die
feinsten Reize des Empire sieht. An ihnen erscheint
die Benützung antiker Formen noch mehr als ein
äusserliches Mittel des repräsentativen Eindrucks.
Viel abgeklärter und persönlicher spricht der Geist
der neuen Kunst zu uns aus den Wohnhäusern der
napoleonischen Zeit. Die Aeusserlichkeiten des

Klassischen werden immer mehr abgestreift. Immer
schlichter und sachlicher wird die reine Zweckform
ausgebildet. Das hohe Dach, an dem man festhält,
gibt dem Haus seinen heimatlichen Charakter wie-
der. Höchstens dass bei reicheren Bauten noch
ein antikisierender Giebel die Fassade krönt, oder
die Fläche durch eine diskrete Anordnung flacher
Pilaster und Gesimse belebt wird. Gelegentlich
wird auch das Motiv der Säulenhalle zu einem
durch den praktischen Zweck gerechtfertigten Mo-
tiv: etwa zur Arkade oder zum Einfahrtvestibül
umgeschaffen. Im übrigen liegt gerade in dem
Verzicht auf das absichtliche Künstlerische die
künstlerische Vornehmheit jener freundlichen
weissen Häuser aus unserer Grossväter Tagen, in
denen das Empire seine letzte und vielleicht reifste
Frucht gezeitigt hat. Es ist das Biedermaierhaus
der vormärzlichen Zeit. Damals reifte noch einmal
ein Stil des Lebens und drückte dem ganzen Auf-
treten des Menschen in Sprache, Kleidung und
Lebensformen die Züge eines einheitlichen, abge-
rundeten "Wesens auf. V

V Wohl lag darin viel von der zahmen Genügsam-
keit des damaligen, politisch bevormundeten und
durch den Tiefstand des deutschen Handels und
Gewerbes auch in seiner materiellen Lebensführung
beschränkten deutschen Staatsbürgers. Der hand-
feste Bürgerstolz, der das mittelalterliche Wohnhaus
geschaffen hatte, war nicht mehr. Der deutsche
Kaufmann und Handwerker war zum kümmerlichen
Spiessbürger herabgesunken. Zum Träger einer
höheren bürgerlichen Kultur war ein Stand gewor-
den, der sein Standesgefühl nicht auf die Tüchtig-
keit in realem Erwerb und praktischer Arbeit,
sondern auf die etwas abstrakte Wertung seiner aus
literarischen Quellen geschöpften höheren Bildung
und idealistischen Geistesrichtung gründete. Das
humanistisch gebildete Beamten- und Gelehrtentum
bestimmte die geistige Atmosphäre der Gesell-
schaft. Auf diesem Boden konnte die Blüte eines
nationalen Wohlstandes nicht gedeihen. Aber es
lag darin doch auch ein Moment antimaterieller
Verfeinerung der Lebensanschauung. Das klassische
Ideal, das für die Dürftigkeit des äusseren Daseins
entschädigen musste, besass damals noch die Kraft,
dem Leben einen höheren Gehalt zu geben. Eine
geistige Stimmung lag über der Zeit, die selbst der
Aermlichkeit einen Hauch idyllischer Wärme und
Behaglichkeit verlieh. Diese Stimmung der Zeit
fand im Biedermaierhaus und seiner Einrichtung
ihren künstlerischen Ausdruck. Sie schuf noch
einmal einen Stil der deutschen Bürgerwohnung.

V Das Biedermaierhausgehört heute der Geschichte
an. Seine Entwicklung ist in der Stickluft der
 
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