Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Moderne Bauformen: Monatshefte für Architektur und Raumkunst — 25.1926

DOI Heft:
Nr. VII
DOI Artikel:
Eisler, Max: Neue Wiener Nutzbauten
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.61845#0313

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
233


Architekt Josef J. Mayer. — Wiener Stadtbauamt
Modell des neuen Hundsturmer Friedhofs

NEUE WIENER NUTZBAUTEN
VON MAX EISLER

In den folgenden Blättern kommt, wie verschieden auch
nach Art und Herkunft ihre Bilder sein mögen, der
soziale Sinn des gegenwärtigen Augenblicks aufs klarste
zum Vorschein. Auch in Wien, das durch Jahrhunderte
mit mehr oder weniger Recht eine „Stadt der Phäaken“
genannt werden konnte, eine Insel des leichten, heiteren
oder gar festlichen Lebensspieles, ist der ernstere Geist
der Nachkriegszeit eingezogen, der sich den allgemeinen
Notwendigkeiten verpflichtet weiß. Der Luxus, dem vor
wenigen Jahren noch die besten Kräfte der Architektur
und des Handwerks gedient haben, ist für unbestimmte
Frist, bis auf Widerruf, verabschiedet, das Nützliche an
der Tagesordnung. Dieselben Künstler, die das Recht
des Temperaments vor jedes andere gestellt, die persön-
liche Freiheit mit geharnischten Worten verteidigt, mit
fein empfundenen oder phantasievollen Werken aufs
äußerste betont haben, sind jetzt nicht weniger ent-
schlossen, das Gemeinnützige als die Forderung der
Stunde anzuerkennen und darzustellen. Das ist kein
Abfall von ihrer eigenen Vergangenheit, sondern nur
tiefere Einkehr bei sich selbst. Solange das Leben eine
Lust gewesen, war auch der Leidenschaft unserer Künstler
der weiteste Spielraum gegeben. Die härtere Zeit ver-
langt von ihnen die sittlichen Besonnenheiten und Taten
des Charakters. Sie sollen dem Schönheitskult, der ihnen
bisher über alles gegangen, einstweilen den Rücken
kehren und die Baukunst im Dienste der breitesten werk-
tätigen Schichten als eine Sache der sozialen Kultur, der
neuen Humanität, handhaben.
Mit Bedeutung steht deshalb am Anfang unserer dies-

maligen Auslese jene Brunnengruppe, genannt „Die große
Mutter“, die im Gartenhof der neuen Stadtwiener Ueber-
nahmestelle für verlassene Kinder aufgestellt werden soll.
Aus einem gewaltigen Marmorfelsen gehauen, umfaßt
die Frau mit vorstürmender und zugleich schützender
Gebärde den unwilligen Knaben und das schmiegsame
Mädchen, die sie den Gefahren der großstädtischen
Gassen entrissen, während vorn und rückwärts schuld-
lose, nun wohlgeborgene Kinder zu ihren Füßen spielen.
Im Pathos dieser Figur kommt nicht nur die machtvolle
Gestaltungsgabe ihres Meisters Anton Hanak sinnfällig
zum Ausdruck, sondern auch der soziale Antrieb seiner
Auftraggeber, der neuen Stadtherren von Wien. Aller-
dings, was sonst nach ihrem Willen entsteht, die mannig-
fachen Anstalten der Fürsorge, die Volkswohnhäuser und
Siedlungen, das führt nicht die schwunghafte, hymnische
Sprache jenes Monumentes. Sondern erscheint, neben das
Bildnerwerk gehalten, weit eher nüchtern. Ist aber im
Grunde, auf seine andere, zweckbewußte Weise, nicht
weniger feierlich. Denn auch das ungetüme Sammelhaus
von vielen kleinen und kleinsten Wohnungen verkörpert
die auf gegenseitige Hilfe eingerichtete Organisation
unserer heutigen Gesellschaft, die in dem Brunnen der
„Großen Mutter“ ihr tragisches Sinnbild erhalten hat.
Das vorliegende Heft bringt nur nebenbei einige Bei-
spiele der Interieur- und Möbelkunst: Stücke nach Ent-
würfen von R. Lorenz, dessen Werkstätten für die Verab-
schiedung der längst schon veralteten spießbürgerlichen
Großmannssucht, für die Aufzucht einer zeitgemäß über-
legten, sauberen und doch auch angenehmen Wohnlichkeit

MOD. BAUFORMEN 1926. VII, 1.
 
Annotationen