Kannitverstan
II2I
ic ein deutscher Handwerks-
bursche ans merkwürdige Weise zur
Erkenntnis der Unbeständigkeit aller
menschlichen Verhältnisse kam, davon
erzählt uns Johann Peter Hebel fol-
gende hübsche Geschichte, die sich um
die Wende des vorigen Jahrhunderts
zngetragen haben soll. — Der junge
Wandersmann, aus einer deutschenKlein-
stadt gebürtig, kam, rheinab pilgernd,
zuletzt auch nach Amsterdam, in welcher
lebhaften, großen und prächtigen Han-
delsstadt ihm alles imponierte — beson-
ders aber ein stolzes Gebäude mit reichen
Architekturen, schönen Gesimsen, hohen
Fenstern n. s. w. Er fragte deshalb
einen Vorübergehenden, wem doch das
schöne Haus gehöre, und bekam zur
Antwort: „Kannitverstan", was ans
deutsch heißt: „Ich kann Euch nicht
verstehen." Der gute Fremdling aber
glaubte, das sei der Name des Be-
sitzers, und dachte, wenn ich doch auch
sv reich wäre wie dieser Herr Kannit-
vcrstan. Indem er weiter wanderte,
kam er an den Hafen und wunderte
sich über die vielen Schiffe und die
Menge der Güter, welche ausgeladen
wurden. Endlich faßte er sich ein
Herz und fragte einen müßig umher-
stehenden Bootsmann, wem alle diese
Schiffe und Waren gehörten? „Kannit-
vcrstan", antwortete dieser brummig
und ließ unfern Freund stehen, der
Nachdenklich über die ungleiche Verteilung
der Güter weiter schritt. Nach einer
Weile hörte er ein Glöcklein läuten
und sah einen Leichenzng sich vorbei-
bewegen, die dem Sarg Folgenden par-
weise geordnet in langer Reihe. Neu-
gierig, wie unser Wanderbursche war,
faßte er den Letzten am Mantel und
rannte ihm die Frage nach dem Namen
des Verstorbenen zu. „Kannitverstan",
war die kurze, unfreundlich gegebene
Antwort. Da rollten unserm Freund
ein paar schwere Zähren herab und er
dachte: „ Armer Kannitverstan, was nützt
dir jetzt all dein Reichtum?!" Leichten
Herzens und mit gutem Appetit ver-
zehrte er in der Herberge ein Stück
Käse, und kam ihm je wieder einmal
ein unzufriedener Gedanke, so dachte er
an den Herrn Kannitverstan mit dem
großen Haus, den reichen Schiffen und
seinem engen Grab.
Münchener Bilderbogen.
(Asse Jechtc vorkehakten.)
Nio. 1131.
HeranSgegeben und verlegt von Brann Schneider in München.
Kgl. Hof- und UuiversitütS-Buchdruckerei von l)r. C. Wolf L Sohn in München.
II2I
ic ein deutscher Handwerks-
bursche ans merkwürdige Weise zur
Erkenntnis der Unbeständigkeit aller
menschlichen Verhältnisse kam, davon
erzählt uns Johann Peter Hebel fol-
gende hübsche Geschichte, die sich um
die Wende des vorigen Jahrhunderts
zngetragen haben soll. — Der junge
Wandersmann, aus einer deutschenKlein-
stadt gebürtig, kam, rheinab pilgernd,
zuletzt auch nach Amsterdam, in welcher
lebhaften, großen und prächtigen Han-
delsstadt ihm alles imponierte — beson-
ders aber ein stolzes Gebäude mit reichen
Architekturen, schönen Gesimsen, hohen
Fenstern n. s. w. Er fragte deshalb
einen Vorübergehenden, wem doch das
schöne Haus gehöre, und bekam zur
Antwort: „Kannitverstan", was ans
deutsch heißt: „Ich kann Euch nicht
verstehen." Der gute Fremdling aber
glaubte, das sei der Name des Be-
sitzers, und dachte, wenn ich doch auch
sv reich wäre wie dieser Herr Kannit-
vcrstan. Indem er weiter wanderte,
kam er an den Hafen und wunderte
sich über die vielen Schiffe und die
Menge der Güter, welche ausgeladen
wurden. Endlich faßte er sich ein
Herz und fragte einen müßig umher-
stehenden Bootsmann, wem alle diese
Schiffe und Waren gehörten? „Kannit-
vcrstan", antwortete dieser brummig
und ließ unfern Freund stehen, der
Nachdenklich über die ungleiche Verteilung
der Güter weiter schritt. Nach einer
Weile hörte er ein Glöcklein läuten
und sah einen Leichenzng sich vorbei-
bewegen, die dem Sarg Folgenden par-
weise geordnet in langer Reihe. Neu-
gierig, wie unser Wanderbursche war,
faßte er den Letzten am Mantel und
rannte ihm die Frage nach dem Namen
des Verstorbenen zu. „Kannitverstan",
war die kurze, unfreundlich gegebene
Antwort. Da rollten unserm Freund
ein paar schwere Zähren herab und er
dachte: „ Armer Kannitverstan, was nützt
dir jetzt all dein Reichtum?!" Leichten
Herzens und mit gutem Appetit ver-
zehrte er in der Herberge ein Stück
Käse, und kam ihm je wieder einmal
ein unzufriedener Gedanke, so dachte er
an den Herrn Kannitverstan mit dem
großen Haus, den reichen Schiffen und
seinem engen Grab.
Münchener Bilderbogen.
(Asse Jechtc vorkehakten.)
Nio. 1131.
HeranSgegeben und verlegt von Brann Schneider in München.
Kgl. Hof- und UuiversitütS-Buchdruckerei von l)r. C. Wolf L Sohn in München.