Zur Choralüberlieferung bei den Zisterziensern
VON ANDREAS TRAUB
Der folgende Beitrag, in dem aufgrund der von Felix Heinzer beschriebenen Quellenlage
der Name Maulbronn fehlt, hat zwei Teile; der erste ist ein kurzer Überblick über die
Grundsätze und musiktheoretischen Begründungen der Choralpflege der Zisterzienser,
genauer der unter Bernhard von Clairvaux durchgeführten (zweiten) Choralreform; der
zweite enthält einige Beobachtungen zur Überlieferung in zwei Antiphonarien aus dem
Kloster Lichtenthal1. In beiden Teilen ist die Verwendung der Bezeichnung in den mittel-
alterlichen Lehrschriften zur Musik, besser: zur musica, sowie der Choralnotation erfor-
derlich. Wie in keiner anderen Kunst ist in der Musik das als solches flüchtige Phänomen
- (vox) quando fit, est, sed cum facta est, non est (Johannes de Muris, um 1320)2 - auf die
Hilfe der ihm jeweils angemessenen Schriftform und Begrifflichkeit angewiesen, damit
das interessierte Hineinhorchen nicht in die Irre geht3.
I
Die meisten kirchlichen Reformbewegungen im Mittelalter berührten auch die gesunge-
ne Liturgie, den Choral, und zwar nicht nur sein Was, die Zuordnung der Gesänge zu
Festen und Feiern, sondern auch sein Wie: die Melodiegestalt wurde Reformgegenstand4.
1 Zur Quellenlage für Maulbronn vgl. den Beitrag von F. Heinzer in diesem Band. Für den Hin-
weis auf die Lichtenthaler Handschriften danke ich Dr. Felix Heinzer sehr herzlich.
2 Notitia artis Musicae, lib. Secundus, cap. I. Vgl. Ulrich Michels (Hg.), Johannis de Muris No-
titia artis musicae ... (Corpus Scriptorum de Musica 17), American Institute of Musicology 1972,
S. 65. Zur Datierung Ders., Die Musiktraktate des Johannes de Muris (Beihefte zum Archiv für Mu-
sikwissenschaft 8), Wiesbaden 1970, S. 15.
3 Reiches Bildmaterial und weiterführende Literaturangaben zu diesem Problem bieten Bruno Stäb-
lein, Schriftbild der einstimmigen Musik (Musikgeschichte in Bildern III/4), Leipzig 1975, und Joseph
Smits van Waesberghe Musikerziehung (Musikgeschichte in Bildern III/4), Leipzig 1969. Um nur
einen Punkt zu nennen: Die geläufige Notation mit Violin- und Baßschlüssel rechnet mit einem durch-
weg neutralen, in der absoluten Höhe aber eindeutig fixierten Tonmatenal (a’ = 440 Hz). Dem Choral
liegt ein vielfältig strukturiertes Tonmaterial zugrunde, dessen Intertonation aber gänzlich von der je-
weiligen, vom Cantor einzuschätzenden Situation abhängt. So schrieb man für Nonnenklöster nicht
etwa den Choral in einem »Sopranschlüssel«. Choralnotation ist Struktur-, nicht Tonhöhenschrift.
4 Gottfried Göller, Die Gesänge der Ordensliturgien, in: Karl Gustav Fellerer (Hg.), Geschich-
te der katholischen Kirchenmusik 1, Kassel 1972, S. 265-271; David Hiley, Western Plainchant, Ox-
ford 1993, S. 608-621. Zur Choralreform der Zisterzienser zuletzt Cristiano Veroli, Die zisterzien-
sische Revision des gregorianischen Chorals - ein Kompromiß zwischen Erneuerung und Bewahrung,
in: Kirchenmusikalisches Jahrbuch 79 (1995), S. 67-98. Hier wird an einer Fülle von Beispielen und vor
VON ANDREAS TRAUB
Der folgende Beitrag, in dem aufgrund der von Felix Heinzer beschriebenen Quellenlage
der Name Maulbronn fehlt, hat zwei Teile; der erste ist ein kurzer Überblick über die
Grundsätze und musiktheoretischen Begründungen der Choralpflege der Zisterzienser,
genauer der unter Bernhard von Clairvaux durchgeführten (zweiten) Choralreform; der
zweite enthält einige Beobachtungen zur Überlieferung in zwei Antiphonarien aus dem
Kloster Lichtenthal1. In beiden Teilen ist die Verwendung der Bezeichnung in den mittel-
alterlichen Lehrschriften zur Musik, besser: zur musica, sowie der Choralnotation erfor-
derlich. Wie in keiner anderen Kunst ist in der Musik das als solches flüchtige Phänomen
- (vox) quando fit, est, sed cum facta est, non est (Johannes de Muris, um 1320)2 - auf die
Hilfe der ihm jeweils angemessenen Schriftform und Begrifflichkeit angewiesen, damit
das interessierte Hineinhorchen nicht in die Irre geht3.
I
Die meisten kirchlichen Reformbewegungen im Mittelalter berührten auch die gesunge-
ne Liturgie, den Choral, und zwar nicht nur sein Was, die Zuordnung der Gesänge zu
Festen und Feiern, sondern auch sein Wie: die Melodiegestalt wurde Reformgegenstand4.
1 Zur Quellenlage für Maulbronn vgl. den Beitrag von F. Heinzer in diesem Band. Für den Hin-
weis auf die Lichtenthaler Handschriften danke ich Dr. Felix Heinzer sehr herzlich.
2 Notitia artis Musicae, lib. Secundus, cap. I. Vgl. Ulrich Michels (Hg.), Johannis de Muris No-
titia artis musicae ... (Corpus Scriptorum de Musica 17), American Institute of Musicology 1972,
S. 65. Zur Datierung Ders., Die Musiktraktate des Johannes de Muris (Beihefte zum Archiv für Mu-
sikwissenschaft 8), Wiesbaden 1970, S. 15.
3 Reiches Bildmaterial und weiterführende Literaturangaben zu diesem Problem bieten Bruno Stäb-
lein, Schriftbild der einstimmigen Musik (Musikgeschichte in Bildern III/4), Leipzig 1975, und Joseph
Smits van Waesberghe Musikerziehung (Musikgeschichte in Bildern III/4), Leipzig 1969. Um nur
einen Punkt zu nennen: Die geläufige Notation mit Violin- und Baßschlüssel rechnet mit einem durch-
weg neutralen, in der absoluten Höhe aber eindeutig fixierten Tonmatenal (a’ = 440 Hz). Dem Choral
liegt ein vielfältig strukturiertes Tonmaterial zugrunde, dessen Intertonation aber gänzlich von der je-
weiligen, vom Cantor einzuschätzenden Situation abhängt. So schrieb man für Nonnenklöster nicht
etwa den Choral in einem »Sopranschlüssel«. Choralnotation ist Struktur-, nicht Tonhöhenschrift.
4 Gottfried Göller, Die Gesänge der Ordensliturgien, in: Karl Gustav Fellerer (Hg.), Geschich-
te der katholischen Kirchenmusik 1, Kassel 1972, S. 265-271; David Hiley, Western Plainchant, Ox-
ford 1993, S. 608-621. Zur Choralreform der Zisterzienser zuletzt Cristiano Veroli, Die zisterzien-
sische Revision des gregorianischen Chorals - ein Kompromiß zwischen Erneuerung und Bewahrung,
in: Kirchenmusikalisches Jahrbuch 79 (1995), S. 67-98. Hier wird an einer Fülle von Beispielen und vor