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SIEGFRIED HERMLE
Dekan zu Wählen; und neben der Erwägung des kirchlichen und sittlichen Zustandes der
Diözese war ihnen auch die Berathung von Anträgen, Wünschen und Beschwerden, wel-
che an den Oberkirchenrath oder an die Generalsynode gebracht werden sollen, einge-
räumt181. Oberstes Gremium war die alle fünf Jahre einzuberufende Generalsynode, die
aus den Prälaten182, sieben von dem Großherzog zu ernennenden geistlichen oder weltli-
chen Mitgliedern, darunter einem Mitgliede der theologischen Fakultät in Heidelberg so-
wie je 24 geistlichen und weltlichen Abgeordneten bestand; letztere wurden auf Diöze-
sanebene gewählt183. Die wichtigste Aufgabe der Generalsynode bestand in der Erwä-
gung des Zustandes der Landeskirche in Bezug auf Lehre, Liturgie, Verfassung, Zucht und
christliches Leben sowie in der Mitwirkung bei der Gesetzgebung im ganzen Gebiete des
Kirchenwesen. Damit war also der Synode ausdrücklich auch die Gesetzesinitiative zuge-
standen. Zudem konnten Beschwerden gegen die Amtsführung des Oberkirchenraths
geäußert und die allgemeinen Ausgaben... [samt] Deckungsmitteln derselben, nach den
Vorlagen des Oberkirchenraths bewilligt werden. Der Oberkirchenrat aber, dessen Mit-
glieder vom Großherzog ernannt wurden, bildete die oberste Behörde der vereinigten
evangelisch-protestantischen Kirche des Landes, durch welche der Großherzog das ihm
zustehende Kirchenregiment ausübt™4.
Es ist Peter von Tiling zuzustimmen, der in dieser Verfassung die »Wünsche der
Freunde des Gemeindeprinzips« so weit erfüllt sah, »wie es unter den damaligen politi-
schen Bedingungen möglich war«185. Auf allen Ebenen waren Gemeindeglieder zu min-
destens 50 Prozent in die Leitungsgremien eingebunden. In der Ortsgemeinde wurde so-
gar durch die Einrichtung der Kirchenversammlung der Versuch gemacht, über den Kir-
chengemeinderat hinaus möglichst vielen Gemeindegliedern die Möglichkeit zu einer
aktiven Mitwirkung in der Kirche zu geben. Die einzelne Gemeinde hatte nicht länger -
wie 1821 bestimmt - vor allem die Sittlichkeit im Blick zu behalten, sondern ihr waren
echte Sachkompetenzen bis hin zur Wahl des Pfarrers zugestanden, und sie konnte in
großer Unabhängigkeit vom Oberkirchenrat ihre Angelegenheiten regeln.
Die Ereignisse des Jahres 1861 stellten das Verhältnis von Kirche und Staat in Baden
auf eine völlig neue Rechtsgrundlage, die von dem Grundgedanken geprägt war: »Selb-
ständigkeit der christlichen Hauptkirchen ..., aber in entschiedener Unterordnung unter
den Staat«186. Die Abkehr vom Staatskirchentum brachte der evangelischen Landeskirche
mit der neuen Verfassung in der Tat keine völlige Staatsfreiheit, doch eine größtmögliche
Autonomie und Freiheit von der staatlichen Bevormundung. Zu einer weitestgehenden
Selbständigkeit in der Verwaltung ihrer inneren Angelegenheiten trat die aktive Beteili-
gung von Laien an der Kirchenleitung auf allen Ebenen. Deutlich ist, daß in dieser von
unten nach oben aufgebauten Verfassung das landesherrliche Kirchenregiment aufrecht -
181 Ebd., S. 385.
182 Vgl. Friedrich (wie Anm. 1), S. 198; J. Mehlhausen, Artikel Prälat, in: TRE 27, S. 165.
183 Huber/Huber, Bd. 2 (wie Anm. 98), S. 385f.
184 Ebd., S. 387. - Dem Oberkirchenrat wurde im Februar 1862 auch die Verwaltung des evange-
lischen Kirchenvermögens übertragen (vgl. ebd., S. 389); da er in dieser Funktion staatliche Befug-
nisse wahrnahm, mußten seine Mitglieder das Plazet der Staatsbehörden erhalten.
185 VON TlLING (wie Anm. 91), S. 569.
186 Nach LlERMANN (wie Anm. 44), S. 542.
SIEGFRIED HERMLE
Dekan zu Wählen; und neben der Erwägung des kirchlichen und sittlichen Zustandes der
Diözese war ihnen auch die Berathung von Anträgen, Wünschen und Beschwerden, wel-
che an den Oberkirchenrath oder an die Generalsynode gebracht werden sollen, einge-
räumt181. Oberstes Gremium war die alle fünf Jahre einzuberufende Generalsynode, die
aus den Prälaten182, sieben von dem Großherzog zu ernennenden geistlichen oder weltli-
chen Mitgliedern, darunter einem Mitgliede der theologischen Fakultät in Heidelberg so-
wie je 24 geistlichen und weltlichen Abgeordneten bestand; letztere wurden auf Diöze-
sanebene gewählt183. Die wichtigste Aufgabe der Generalsynode bestand in der Erwä-
gung des Zustandes der Landeskirche in Bezug auf Lehre, Liturgie, Verfassung, Zucht und
christliches Leben sowie in der Mitwirkung bei der Gesetzgebung im ganzen Gebiete des
Kirchenwesen. Damit war also der Synode ausdrücklich auch die Gesetzesinitiative zuge-
standen. Zudem konnten Beschwerden gegen die Amtsführung des Oberkirchenraths
geäußert und die allgemeinen Ausgaben... [samt] Deckungsmitteln derselben, nach den
Vorlagen des Oberkirchenraths bewilligt werden. Der Oberkirchenrat aber, dessen Mit-
glieder vom Großherzog ernannt wurden, bildete die oberste Behörde der vereinigten
evangelisch-protestantischen Kirche des Landes, durch welche der Großherzog das ihm
zustehende Kirchenregiment ausübt™4.
Es ist Peter von Tiling zuzustimmen, der in dieser Verfassung die »Wünsche der
Freunde des Gemeindeprinzips« so weit erfüllt sah, »wie es unter den damaligen politi-
schen Bedingungen möglich war«185. Auf allen Ebenen waren Gemeindeglieder zu min-
destens 50 Prozent in die Leitungsgremien eingebunden. In der Ortsgemeinde wurde so-
gar durch die Einrichtung der Kirchenversammlung der Versuch gemacht, über den Kir-
chengemeinderat hinaus möglichst vielen Gemeindegliedern die Möglichkeit zu einer
aktiven Mitwirkung in der Kirche zu geben. Die einzelne Gemeinde hatte nicht länger -
wie 1821 bestimmt - vor allem die Sittlichkeit im Blick zu behalten, sondern ihr waren
echte Sachkompetenzen bis hin zur Wahl des Pfarrers zugestanden, und sie konnte in
großer Unabhängigkeit vom Oberkirchenrat ihre Angelegenheiten regeln.
Die Ereignisse des Jahres 1861 stellten das Verhältnis von Kirche und Staat in Baden
auf eine völlig neue Rechtsgrundlage, die von dem Grundgedanken geprägt war: »Selb-
ständigkeit der christlichen Hauptkirchen ..., aber in entschiedener Unterordnung unter
den Staat«186. Die Abkehr vom Staatskirchentum brachte der evangelischen Landeskirche
mit der neuen Verfassung in der Tat keine völlige Staatsfreiheit, doch eine größtmögliche
Autonomie und Freiheit von der staatlichen Bevormundung. Zu einer weitestgehenden
Selbständigkeit in der Verwaltung ihrer inneren Angelegenheiten trat die aktive Beteili-
gung von Laien an der Kirchenleitung auf allen Ebenen. Deutlich ist, daß in dieser von
unten nach oben aufgebauten Verfassung das landesherrliche Kirchenregiment aufrecht -
181 Ebd., S. 385.
182 Vgl. Friedrich (wie Anm. 1), S. 198; J. Mehlhausen, Artikel Prälat, in: TRE 27, S. 165.
183 Huber/Huber, Bd. 2 (wie Anm. 98), S. 385f.
184 Ebd., S. 387. - Dem Oberkirchenrat wurde im Februar 1862 auch die Verwaltung des evange-
lischen Kirchenvermögens übertragen (vgl. ebd., S. 389); da er in dieser Funktion staatliche Befug-
nisse wahrnahm, mußten seine Mitglieder das Plazet der Staatsbehörden erhalten.
185 VON TlLING (wie Anm. 91), S. 569.
186 Nach LlERMANN (wie Anm. 44), S. 542.