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EINLEITUNG

Der bedeutsame Wandel zur Neuzeit, der sich in langer, schrittweiser Entwicklung vollzogen
hatte, war an der Wende zum 16. Jahrhundert in sein entscheidendes Stadium getreten. Renais/
sance und Reformation, in ihren Endzielen durchaus verschieden, haben gemeinsam das morsch
gewordene Gebäude der mittelalterlichen Kultur zum Einsturz gebracht. Auf allen Gebieten sind
neue Gedanken und neue Formen im Werden. Die Welt des Diesseits tritt gleichberechtigt neben
die religiöse Welt, stellt ihre eigenen Gesetze und eigenen Forderungen auf. Der moderne Staat
löst sich aus der kirchlichen Bindung und strebt zum Ausbau der Landeshoheit der einzelnen
Fürsten. Mit der Entwicklung der Geldwirtschaft und des Kapitalismus ist eine soziale Um/
Schichtung verknüpft, die weittragende Folgen hat. Auf geistigem Gebiet fördert der Humanismus
im Studium der Antike und der Vergangenheit des eigenen Volkes die auf das Diesseits ge/
richteten Interessen. Eine Weltfreudigkeit, die Natur und Geist nicht mehr als Gegensatz erfaßt,
verbindet sich mit einer tieferen Religiosität, die von formelhaft gewordener Anbetung zu einem
persönlichen Verhältnis zu Gott zu gelangen sucht. Ein neuer Begriff von Menschenwürde bahnt
sich an. Die Geltung des Einzelmenschen in Rechten und Pflichten, ein höheres Empfinden für
Verantwortung bildet sich heraus, das von einem ersten leisen Regen deutschen Nationalgefühls
begleitet ist. Fürsten und reiche Handelsherren, Bürger deutscher Städte, deren weltweite Be/
Ziehungen das Format ihrer Persönlichkeit gestalten, werden Träger einer neuen weltlichen Kuh-
tur, die neben die kirchliche tritt.
Die Kunst hat aus den ungeheuren Spannungen derZeit höchste Befruchtung gezogen. Nie mehr,
seit der Periode der Staufer, haben die Künste geblüht wie in diesem Frühling der deutschen
Renaissance. Vor dem düsteren Hintergrund von Religionskämpfen, sozialer Not und Bauern/
krieg hebt sich das Bild der deutschen Malerei und Plastik ab wie ein weithin leuchtender Stern.
In heißem Ringen um die Probleme der Zeit haben die großen Meister immer stärker dem neuen
Geist Ausdruck verliehen. Grünewald, der Titan, in dem religiös/gesteigerten Pathos seiner
Visionen, Dürer im endlich erreichten Ausgleich zwischen Ausdruckskraft und klar/monumen/
taler Form, Altdorfer in der Verherrlichung des deutschen Naturgefühls und Holbein d. J. im
klassischen Bildnis des repräsentativen Renaissancemenschen. Den Großen der Malerei gesellen
sich die bedeutenden Meister der Plastik, der pathetisch/barocke Backofen, wie Grünewald am
Mittelrhein beheimatet, Veit Stoß in Nürnberg, mit seiner drängenden Ausdruckskraft und
Formenfülle, der Bayer Hans Leinberger mit den heroischen Gestalten seiner Heiligen und der
gelassen/monumentale Schwabe Gregor Erhärt.
Die Auseinandersetzung zwischen Altem und Neuem im Bereich der bildenden Kunst war,
stilistisch gesprochen, eine Auseinandersetzung zwischen der Spätgotik und der Kunst der großen
Form des frühen 16. Jahrhunderts. Als letzter Ausläufer der irrationalen gotischen Linienkunst
verband die Spätgotik die Tendenzen dieser Zeit mit den Errungenschaften des Realismus zu
einem neuen Stil, der sich in der Plastik in vielen Variationen spiegelt und doch stets die gleichen

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