INTIMES THEATER
NTER dieser Benen-
nung ist vor Kurzem in
München ein neues
Bühnen - Unternehmen
gegründet worden, über
dessen Plan, Zweck und
Ausführung die Re-
daktion dieser Zeit-
schrift einige nähere
Angaben von mir zu
erhalten wünscht. Ich komme mit Vergnügen
ihrem Wunsche nach und benutze dazu im
Wesentlichen meinen bei der Eröffnungsvorstellung
gesprochenen Vortrag.
Verweilen wir einige Augenblicke bei dem
gegenwärtigen Stand unserer Bühnenentwicklung.
Es ist das Zeitalter der vollendeten scenischen Illusion,
des bewusst naturalistischen Bühnenbildes. Das
Prinzip des Meiningerthums, Echtheit der Ausstattung
bis auf den letzten Knopf, hat sich siegend die
Welt erobert oder doch die Bretter, die die Welt
bedeuten sollen, und hat seinen Einzug gehalten auf
allen grossen Bühnen, nachdem es an seiner Ur-
sprungsstätte finanziellen Schwierigkeiten schon
längst zum Opfer gefallen ist.
Die fruchtbaren Wirkungen des Prinzips sind
unbestreitbar. Sie dauern zum Teil noch heute
nach. Noch heute steht das deutsche Drama tief
in der Schuld bei jener nach Echtheit und Wirklich-
keit ringenden Bühnenbewegung. Es hat innerlich
an Stimmungsgehalt gewonnen, äusserlich aber ver-
dankt es dem Meiningertum ein neu gewecktes
Interesse des Publikums am Theater nach einer
Zeit der Ermüdung, der Gleichgültigkeit.
Doch auch die Verfallszüge der neuen Bühnen-
auffassung entwickelten sich früh, und sie vor Allem
machen sich heute abschreckend bemerkbar. Es
war natürlich, dass auf dem Wege, wo man sich
so grosse künstlerische und materielle Erfolge geholt
hatte, auf dem Wege der blendenden Aus-
stattung, der überzeugenden Wirklichkeitstreue
des Bühnenbildes, weiter und weiter und bis an
die äussersten Grenzen fortgefahren werden musste.
Traf doch das allgemeine naturalistische Bedürfniss
des Zeitalters zusammen mit dem besonderen der
Bühnenleiter, wohlgemerkt nur im Aeusserlichen,
in der Ausstattung, nicht im Stil der Darstellung selbst.
Echtheit der Möbel, der Kostüme, greifbare Wirk-
lichkeit der Dekorationen, das wurde die Parole, und
es klang nur noch wie ein Märchen aus überholten
Zeiten, dass doch im Grunde die Kunst nicht das
ist, was sie darstellt, sondern es nur bedeutet, und
dass allen Kunstschaffens wie Kunstgeniessens bestes
Theil doch die Phantasie ist. Man vergass, dass
Kunst Symbol heisst, dem freilich Natur und
Wirklichkeit zu Grunde liegen.
Das Publikum freilich machte solche Einwände
nicht. Es Hess sich willig zu der neuen Weisheit
erziehen und fand schnell Behagen an der ver-
feinerten Ausstattungstechnik, die seine Theater-
direktoren ihm boten. Wie bequem war es
jetzt, nicht mehr auf die Flugkraft der eigenen
Phantasie angewiesen zu. sein, die Einen so
manches Mal unsanft auf den Sand gesetzt hatte,
sondern ruhig verdauend dazusitzen und sich das
ganze Bild, getreu bis auf das letzte Tüpfelchen,
vom Dekorationsmaler und Maschinenmeister vor-
führen zu lassen.
Eines nur kam dabei zu kurz. Das war die
Phantasie. Nach bekanntem Naturgesetz müssen
Organe, die nicht genügend entwickelt und ausge-
nutzt werden, sich zurückbilden, kränklich und
gebrestig werden und am Ende verkrüppeln. So
geschah es auch der Phantasie des Publikums. Man
hatte ihr Krücken aufgenöthigt, statt sie frei
schalten und walten, statt sie fliegen zu lassen,
und das Publikum revanchirte sich für die übertrie-
bene Bevormundung, indem es wie ein verhätscheltes
Kind immer ungebärdigere Ansprüche an die lieben
Vormünder stellte.
So war man in einen circulus vitosus eingetreten,
in welchem die Theater durch gesteigerte Pracht
die Sinne ihres Publikums überreizten und ver-
darben, und umgekehrt wieder das Publikum mit
immer massloseren Forderungen das künstlerische
und materielle Gleichgewicht der Bühnen erschüt-
terte, also immer eine Korruption sich über die
andere thürmte.
Es ist der krasse Kapitalismus, dem sich die
öffentlichen Bühnen damit ausgeliefert haben. Nicht
umsonst überwuchern heute gleich fettem Unkraut
an fast sämmtlichen deutschen Hof- und Stadt-
theatern die Oper und das Ausstattungsstück und
entziehen dem Schauspiel Licht und Luft. Dass dieser
Prozess mit einem ästhetischen und finanziellen Zu-
sammenbruch sondergleichen enden muss, liegt für
jeden Kundigen auf der Hand. Fraglich ist nur noch
der Zeitpunkt. Das Ende selbst steht fest.
Wo aber bleibt bei alledem die Kunst? Sie
wenigstens soll gerettet sein, wo ihre heutigen
Tempel dem Einsturz nahe sind. Wohin flüchtet
G 106 D
NTER dieser Benen-
nung ist vor Kurzem in
München ein neues
Bühnen - Unternehmen
gegründet worden, über
dessen Plan, Zweck und
Ausführung die Re-
daktion dieser Zeit-
schrift einige nähere
Angaben von mir zu
erhalten wünscht. Ich komme mit Vergnügen
ihrem Wunsche nach und benutze dazu im
Wesentlichen meinen bei der Eröffnungsvorstellung
gesprochenen Vortrag.
Verweilen wir einige Augenblicke bei dem
gegenwärtigen Stand unserer Bühnenentwicklung.
Es ist das Zeitalter der vollendeten scenischen Illusion,
des bewusst naturalistischen Bühnenbildes. Das
Prinzip des Meiningerthums, Echtheit der Ausstattung
bis auf den letzten Knopf, hat sich siegend die
Welt erobert oder doch die Bretter, die die Welt
bedeuten sollen, und hat seinen Einzug gehalten auf
allen grossen Bühnen, nachdem es an seiner Ur-
sprungsstätte finanziellen Schwierigkeiten schon
längst zum Opfer gefallen ist.
Die fruchtbaren Wirkungen des Prinzips sind
unbestreitbar. Sie dauern zum Teil noch heute
nach. Noch heute steht das deutsche Drama tief
in der Schuld bei jener nach Echtheit und Wirklich-
keit ringenden Bühnenbewegung. Es hat innerlich
an Stimmungsgehalt gewonnen, äusserlich aber ver-
dankt es dem Meiningertum ein neu gewecktes
Interesse des Publikums am Theater nach einer
Zeit der Ermüdung, der Gleichgültigkeit.
Doch auch die Verfallszüge der neuen Bühnen-
auffassung entwickelten sich früh, und sie vor Allem
machen sich heute abschreckend bemerkbar. Es
war natürlich, dass auf dem Wege, wo man sich
so grosse künstlerische und materielle Erfolge geholt
hatte, auf dem Wege der blendenden Aus-
stattung, der überzeugenden Wirklichkeitstreue
des Bühnenbildes, weiter und weiter und bis an
die äussersten Grenzen fortgefahren werden musste.
Traf doch das allgemeine naturalistische Bedürfniss
des Zeitalters zusammen mit dem besonderen der
Bühnenleiter, wohlgemerkt nur im Aeusserlichen,
in der Ausstattung, nicht im Stil der Darstellung selbst.
Echtheit der Möbel, der Kostüme, greifbare Wirk-
lichkeit der Dekorationen, das wurde die Parole, und
es klang nur noch wie ein Märchen aus überholten
Zeiten, dass doch im Grunde die Kunst nicht das
ist, was sie darstellt, sondern es nur bedeutet, und
dass allen Kunstschaffens wie Kunstgeniessens bestes
Theil doch die Phantasie ist. Man vergass, dass
Kunst Symbol heisst, dem freilich Natur und
Wirklichkeit zu Grunde liegen.
Das Publikum freilich machte solche Einwände
nicht. Es Hess sich willig zu der neuen Weisheit
erziehen und fand schnell Behagen an der ver-
feinerten Ausstattungstechnik, die seine Theater-
direktoren ihm boten. Wie bequem war es
jetzt, nicht mehr auf die Flugkraft der eigenen
Phantasie angewiesen zu. sein, die Einen so
manches Mal unsanft auf den Sand gesetzt hatte,
sondern ruhig verdauend dazusitzen und sich das
ganze Bild, getreu bis auf das letzte Tüpfelchen,
vom Dekorationsmaler und Maschinenmeister vor-
führen zu lassen.
Eines nur kam dabei zu kurz. Das war die
Phantasie. Nach bekanntem Naturgesetz müssen
Organe, die nicht genügend entwickelt und ausge-
nutzt werden, sich zurückbilden, kränklich und
gebrestig werden und am Ende verkrüppeln. So
geschah es auch der Phantasie des Publikums. Man
hatte ihr Krücken aufgenöthigt, statt sie frei
schalten und walten, statt sie fliegen zu lassen,
und das Publikum revanchirte sich für die übertrie-
bene Bevormundung, indem es wie ein verhätscheltes
Kind immer ungebärdigere Ansprüche an die lieben
Vormünder stellte.
So war man in einen circulus vitosus eingetreten,
in welchem die Theater durch gesteigerte Pracht
die Sinne ihres Publikums überreizten und ver-
darben, und umgekehrt wieder das Publikum mit
immer massloseren Forderungen das künstlerische
und materielle Gleichgewicht der Bühnen erschüt-
terte, also immer eine Korruption sich über die
andere thürmte.
Es ist der krasse Kapitalismus, dem sich die
öffentlichen Bühnen damit ausgeliefert haben. Nicht
umsonst überwuchern heute gleich fettem Unkraut
an fast sämmtlichen deutschen Hof- und Stadt-
theatern die Oper und das Ausstattungsstück und
entziehen dem Schauspiel Licht und Luft. Dass dieser
Prozess mit einem ästhetischen und finanziellen Zu-
sammenbruch sondergleichen enden muss, liegt für
jeden Kundigen auf der Hand. Fraglich ist nur noch
der Zeitpunkt. Das Ende selbst steht fest.
Wo aber bleibt bei alledem die Kunst? Sie
wenigstens soll gerettet sein, wo ihre heutigen
Tempel dem Einsturz nahe sind. Wohin flüchtet
G 106 D