Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Abb. 43
Jünglingskopf

Wladimir Grueneisen noch ein Wort mehr gesagt werden. In der neueren Kunst-
Iiteratur hat es etwas Derartiges nicht wieder gegeben. Unter den abgebildeten
dreißig Objekten ist kaum eins, das als echt angesprochen werden könnte. Ein
Rezensent, der die kostbar ausgestattete Publikation Grueneisens besprochen
hat96, macht die trelTende Bemerkung: Beirn Betrachten der Werke, die uns
Grueneisen dediziert, könne man höchstens bei dem einen oder anderen fragen:
bist du vielleicht doch nicht falsch? - während man sonst wohl ohne Autopsie,
das heißt ohne Kenntnis des Originals, mitunter die Frage zu stellen gewöhnt
ist: bist du vielleicht doch nicht echt? Aber auch die beiden Stticke, bei denen
der Verdacht der Echtheit für den Kritiker überhaupt in Frage käme, ein archai-
stischer Frauentorso und ein tanzender Bronzesatyr, erwecken recht wenig Ver-
trauen. Man fragt sich geradezu, wie es möglich gewesen ist, eine derartige Fülle
von Fälschungen zusammenzutragen; aber Kenner des italienischen Kunsthandels
versichern uns, daß in den zwanziger und dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts
die Antiquitätengeschäfte voll solcher Machwerke standen, die auf ihre große
Entdeckung warteten.

Die schlimmsten und handgreiflichsten Fälschungen der Sammlung Grueneisen
seien hier kurz vermerkt: An der Spitze steht - sozusagen als Anführerin dieser
Gespensterschar - eine Athena, die zu schmähen wir bereits Gelegenheit hatten;
ebenso hatten die Grueneisensche Sepulkralplastik und die klassische sowie die
praxitelische Aphrodite uns bereits von dem Wert der Sammlung iiberzeugen
können. Die verbleibenden archaischen und archaisierenden Frauenköpfe, Torsen
und Reliefs 97 sind so beschaffen, daß näher darauf einzugehen sich kaum lohnen
dürfte. Den Hellenismus repräsentiert ein Kopf des Laokoon, der, wäre er keine
lächerliche, verzerrte Kopie aus der bekannten Gruppe des Vatikans, eine wirk-
liche Sensation in der Archäologie hervorgerufen hätte. Natürlich gibt es bei
Herrn Grueneisen auch Porträts der hellenistischen und frühen römischen Kaiser-
zeit, die mit ihren stark umränderten Augen und gekräuselten Lippen - im
Gegensatz zu ihren Vorbildern - einen unsympathisch wehleidigen Zug auf-
weisen. Die etruskische Kunst ist mit einer Kalksteinstatuette und zwei Tonsar-
kophagen und die römische Architekturplastik mit einern Campanarelief ver-
treten. O diese Wüste! Im Vergleich mit solchen höchst fragwürdigen Stücken
haben das 18. und 19. Jahrhundert doch wenigstens Fälschungen hervorgebracht,
die bei aller Kälte eine gewisse persönliche Note tragen. Selbst die Statuette einer
Mänade, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts als Marmorwerk aus Smyrna
im skopasischen Stil gegolten hat98, dann aber als hohle Biskuitfigur erkannt
worden ist99, spricht in der kraftvollen, vorwärtsstürmenden Tanzbewegung eine
eigenwilligere Formensprache als alle Grueneisenschen Werke zusammen.

105
 
Annotationen