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Pazaurek, Gustav Edmund
Guter und schlechter Geschmack im Kunstgewerbe — Stuttgart, Berlin, 1912

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https://doi.org/10.11588/diglit.28948#0171
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11. Zweckform und Technik.
Was der gesunde Menschenverstand einerseits und die künstlerische Phantasie
andererseits aus dem Material schafft, wollen wir hier getrennt zu beurteilen
versuchen. Die logische Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes — oder,
was dasselbe ist, die Konstruktionsrichtigkeit*) — ist allerdings mit der künst-
lerischen Formgestaltung so eng verknüpft, und die eine ist so sehr die
selbstverständliche Voraussetzung der anderen, daß die getrennte Behandlung
beider nicht geringe Schwierigkeiten bietet, zumal sich auch der Kunstgewerbler
bei der Arbeit nicht erst eine Rechenschaft darüber ablegt, wo die prosaische
Tätigkeit aufhört und die künstlerische anfängt. Aber wir haben hier auch die
technischen Fragen einzufügen; denn die reinen Materialfragen mußten sich
der Klarheit wegen vorwiegend auf die Kritik der Stoffe und die Auswahl unter
ihnen beschränken, während die Bearbeitung der Materiale, die Wahl dieser
oder jener Technik*) erst in dem Augenblick einsetzt, in dem man darangeht,
einen Stoff zu einem handwerklichen oder kunstgewerblichen Gegenstand um-
zuformen.
Während das Material in der Hauptsache, da die neu hinzukommenden Stoffe
an Bedeutung die kunstgewerblichen Urstoffe, wie den Stein, das Holz, das
Bein, die Gespinstfaser, den Ton, die Metalle, das Glas, nie übertreffen können,
den „ruhenden Pol in der Erscheinungen Flucht" vertritt, sucht man der durch
Mode und Zeitstil geforderten Abwechslung dadurch zu entsprechen, daß man
die beiden anderen Hauptfaktoren, nämlich die Konstruktion und Dekoration, nach
Möglichkeit dem Formenwechsel ausliefert. Aber in der Konstruktion
sind die durch die Rücksicht auf den Gebrauchszweck gezogenen Grenzen
viel enger; ein Stuhl, ein Tisch, ein Weinglas sind längst in völlig zufrieden-
stellender Weise erfunden, so daß in allen derartigen Fällen der Konstruktion gar
nichts, der Formenphantasie nicht mehr viel zu tun übrig bleibt, jedenfalls keine
nennenswerten Verbesserungen erwartet werden können, Verschlechterungen da-
gegen nicht der Gegenstand unserer höchsten Sehnsucht zu sein brauchen. „Ich
glaube" — sagt William Morris mit vollem Recht— „es ist nicht zu viel gesagt,
daß niemand, was für originelle Ideen er auch haben mag, sich heute hinsetzen
und die Form eines gewöhnlichen Gefäßes oder eines Möbels zeichnen kann,
die etwas anderes als eine Entwicklung oder Entartung von Formen wären,
T Wenn Hofrat Dr. Adolf Vetter auf dem Berliner Werkbundtag 1910 darin zwei voneinander
verschiedene Forderungen erblickt, so muß ihm widersprochen werden.
Wenn im Katalog der Dresdner Kunstgewerbeausstellung 1906 für „Stoff und Form" der
Name „Techniken" gewählt wurde, so btfördert das ebensowenig die Klarheit wie die an anderer
Stelle desselben Katalogs gegebene Dreiteilung in „Material, Arbeit und Zweckform", ganz abgesehen
davon, daß in diesem Register der Schmuck überhaupt ganz fehlt.

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