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Pazaurek, Gustav Edmund
Guter und schlechter Geschmack im Kunstgewerbe — Stuttgart, Berlin, 1912

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https://doi.org/10.11588/diglit.28948#0275
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111. Kunstform und Schmuck
Wenn wir Götter oder Engel wären und uns daher ebenso erhaben über
die Ethik des irdischen Materials wie über die logischen Wahrheiten konstruktiver
oder technischer Fragen fühlen dürften, könnten wir unsere Betrachtungen erst
bei diesem im engeren Wortsinne ästhetischen Kapitel beginnen. Da wir
Menschenkinder uns jedoch über das Rohstoffiiche ebensowenig hinwegsetzen
dürfen wie über die nüchternen Angelegenheiten des zweckgemäßen Aufbaues
und der werkgerechten Ausführung, waren die ausführlichen bisherigen Betrach-
tungen sicherlich nicht überflüssig. Jetzt erst haben wir eine sichere Basis
gewonnen, von der aus wir auch die schwierigeren Fragen behandeln können,
die nicht lediglich an die Verstandestätigkeit, sondern auch an unser künstlerisches
Gefühl appeliieren.
Das Kunstgewerbe einer jeden Zeit ist bestrebt, die rein konstruktive Zweck-
form, die ein Kompromiß zwischen dem Material, der Technik und dem Ge-
brauchswert bedeutet, zur Kunstform zu gestalten'). Darunter sind selbstver-
ständlich nicht jene industriellen Seltsamkeiten zu verstehen, die man leider so
oft sieht, wie eine kleine Statuette der Venus von Milo, der mitten auf dem
Bauch eine kleine Weckeruhr eingefügt ist, oder eine Verkleinerung der Nike von
Samothrake, die an Stelle des verlorenen Kopfes eine elektrische Glühbirne-)
trägt. Kunstform und Zweckform sind nicht zwei äußerlich aneinander gefügte
verschiedene Teile, sondern die eine wächst organisch aus der anderen heraus,
so daß ein untrennbares Ganzes entsteht.
Nur vorübergehende puritanisch-asketische Anwandlungen erklären die beste
Lösung des Zweckgedankens auch schon für eine künstlerische Tat. Wenn dies
der Fall wäre, gäbe es fast gar keine künstlerischen Entwicklungsmöglichkeiten,
da es strenggenommen für jeden Gebrauchszweck innerhalb desselben Materials
und derselben Technik nur eine vollkommenste Lösung für alle Zeiten geben
kann, wodurch öde Langweile, also gerade das Gegenteil jeglicher Kunst, in
Permanenz erklärt würde s). Wenn material- und werkgemäße Konstruktion auf
halbem Wege der künstlerischen Idee begegnet, das heißt, wenn reale Zweckform
i) Vgl. L. Erhard: „Die neuzeitliche Tektonik" in der Zeitschrift „Technik und Wirtschaft"
1911, Heft 5. ln dieser sehr beachtenswerten Abhandlung heißt es von der neuzeitlichen Tektonik,
sie habe „das Gepräge eines Transformators, welcher das von der technischen Seite her an-
strömende Gewirr der Werkformen in sich aufnimmt, sichtet, ordnet und zu Grundgestalten des
Alaterialstiles umformt, worauf diese tektonischen Typen dann der Werkkunst zur freien Aus-
gestaltung der Kunstformen zufließen können".
-) Vgl. Felix Duquesnal: „Les chefs-d'ceuvre du mauvais goüt" in „Je sais tout", 1909, S. 406.
=') Vgl. auch den vorzüglichen Aufsatz von Otto Scheffers: „Zweckform und Ornament" in der
Zeitschrift „Deutsche Kunst und Dekoration" 1909 (XXIV), S. 234ff.

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