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Pazaurek, Gustav Edmund
Guter und schlechter Geschmack im Kunstgewerbe — Stuttgart, Berlin, 1912

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https://doi.org/10.11588/diglit.28948#0401
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Kitsch
Der äußerste Gegenpol der künstlerisch durchgeistigten Qualitätsarbeit ist
geschmackloser Massenschund oder Kitsch, der sich um irgendwelche
ethischen, logischen oder ästhetischen Forderungen nicht kümmert, dem alle
Verbrechen und Vergehen gegen das Material, gegen die Technik, gegen die
Zweck- wie Kunstform vollständig gleichgültig sind, der nur eines verlangt: das
Objekt muß billig sein und dabei doch wenigstens möglichst den Anschein
eines höheren Wertes erwecken.
Zu allen Zeiten hat es im Kunsthandwerk Qualitätsunterschiede gegeben,
zu allen Zeiten sind auch recht minderwertige und in jeder Hinsicht zu tadelnde
Gegenstände erzeugt worden, aber niemals zuvor in einem solchen Umfange,
wie es erst seit der Entwicklung einzelner Großindustrien möglich geworden ist.
Wir verstehen daher das Urteil von Gleichen-Rußwurms') über die „glänzend
armselige Fabrikware des 19. Jahrhunderts" oder die etwas lapidaren Sätze von
R. SchaukaU): „Die Industrie hat die Kultur erwürgt", oder „die Industrie schafft
unentwegt den Unrat, darin die bürgerliche Welt behaglich sinnlos weiterwatet",
ln dieser Verallgemeinerung sind solche Thesen zwar etwas gewagt, aber auch
der größte Iudustriefreund und gerade dieser wird nicht leugnen, daß die Über-
produktion von Kitsch eine beklagenswerte Nebenerscheinung, die traurige
Schattenseite des gewaltigen großindustriellen Aufschwungs im 19. Jahrhundert ist.
Unsere Volkswirtschaftler betonen zwar mit einer jeden Zweifel ausschließen-
den Deutlichkeit: „Alle Herstellung von Schund ist Materialverschwendung" Q
und daher in jeder Richtung zu bekämpfen, aber leider ohne einen rechten Er-
folg. Hat doch schon 1827 der weitblickende damalige Finanzminister Weckherlin
an den König Wilhelm I. von Württemberg berichtet: „Nie aber wird unsere
Industrie gehoben werden können, solange nicht mit der Solidität zugleich ein
besserer Geschmack, mit der Tätigkeit mehr Kunstsinn verbunden ist. Dies gilt
von allem und jedem Gewerbe, von dem geringsten Handwerk ebenso wie von
der Kunst im engeren Sinn"; und trotzdem sind die Verhältnisse heute ungleich
schlimmer, als sie vor einem Jahrhundert waren. — Der Grund für diese Er-
scheinung ist die durch die wilden Konkurrenzverhältnisse gesteigerte, fast krank-
hafte Sucht des Produzenten, nach einem möglichst raschen und möglichst
großen Gewinn, ohne Rücksicht auf die eingeschlagenen Wege, ohne Rücksicht
auf die Folgen, die — wenn nicht glücklicherweise immer wieder andere, edlere
Bestrebungen wenigstens teilweise ein Gegengewicht böten — zur völligen Dis-

') A. v. Gteichen-Rußwurm: „Sieg der Freude", S. 264.
-) R. Schaukat: „Vom Geschmack", S. 65ff.
9 Friedrich Naumann auf dem evangeiisch-soziaien Kongreß zu Fleiibronn vom 2. Juni 1909.
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