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lmederum von Weimar, wo sie hingehört, nach Ferrarn, wo ihre Menschen gar
nicht hinpassen, macht aus Deutschen Jtaliener, die vom italienischen Charakter aber
auch gar nichts haben, so tritt bei der natürlichen Tochter vollends diese kühle Manier
alles Jndioiduelle und Lokale auszutilgen, blos das „Allgemein-Menschliche", d. h. das
was nirgends und nie existiert hat, geben zu wollen, aufs schroffste heraus nnd
verdirbt ganz und gar ein Künstwerk, das ohne diese lediglich oom Abscheu
vor der elenden Gegenwart und ihrer trostlosen Erbärmlichkeit eingegebene Art
höchst interessant hätte werden können. Schiller aber, vom Freunde angesteckt,
ließ Kabale nnd Liebe wie Wallenstein, die ihre Zeit mit wnnderbarer Kraft
schildern, die Braut oon Messina folgen, glücklicherweise nicht ohne im Tell bald
wieder auf den richtigen Weg mit verdoppelter Energie zurückzukehren, während
Goethe auf dem falschen beharrte. Es war genau so, wie wenn die Maler mit
vieler Mühe aus lebendigen Menschen bemalte antike Gipsfiguren machten. — Man
wollte das Kunstwerk von allem „Zufälligen" in der Natur reinigen und warf
damit zugleich das Notwendigste von allem, Leben und Glaubwürdigkeit, zum Fenster
hinaus, die an einen bestimmten Boden ebenso sest geknüpft sind, als ans Jndivi-
duelle. — Ohne Zweifel lag dem allem Rousseau zu Grnnde, dessen Anschauung ja
heute noch die Vorstellungswelt ganzer Nationen beherrscht, während uns Darwin
seither lüngst bewiesen hat, daß die aus den einsachsten Grundsormen hervorgegangene
Schöpfung nur ein bestündiger Fortschritt zu immer reicherer und größerer Jndivi-
dnalisierung der Gattungen ist, ja daß gerade in der Variabilitüt, d. h. der Uner-
schöpflichkeit der Natur in Erzeugung neuer indioidueller Formen, ihre eigentlich
schaffende Kraft liege. — Davon hatte man damals — den einzigen Kant ausge-
nommen, keine Ahnung, und eben deshalb erleben wir die sonderbare Erscheinung,
daß, wührend ihr angeborenes Talent unseren großen Dichtern und Künstlern den
oollkommen richtigen Weg zeigte, eine salsche Kunsttheorie sie wieder von demselben
ablenkte. Die nunmehr austauchende romantische Richtung hatte wenigstens das
Gute, dem Jndividuellen und örtlich Bedingten, dem Recht der Nationen und der
Einzelnen wieder zu größerer Auerkennung zu verhelfen, wenn sie auch fortwührend
riickwürts oder in die Ferne blickend und für bestimmte Vorbilder schwärmend, also zu
beständiger Nachahmung geneigt, ebenso wenig eine ganz gesunde Kunst er-
zeugen konnte.

Umsomehr that dieses aber der nunmehr gleich mit Ansang des Jahrhun-
derts überall, bald im Bunde mit der Romantik, bald im Gegensatz zu ihr neu
auftauchende Naturalismus. — Er war in jener ganzen Epoche eigentlich nichts
anderes als der noch durch keine üstethischen Theorien beirrte, gesunde Jnstinkt der
Künstler, der dem Goethe'schen Spruche, „es ist der Mensch in seinem dunklen
Drange des rechten Wegs sich wohl bewußt", entsprechend, die Natur als erste und
einzige Lehrmeisterin anerkannte, ohne deshalb irgendwie das Stndium der technischen
Errungenschaften srüherer Perioden auszuschließen. Aber er ließ sich durch die Vor-
gänger nicht mehr seine Auffassung der Natur oorschreiben, er ahmte nicht bestimmte
Kunstwerke oder Knnststile nach und entsagte damit, wie es alle ihm oorausgehenden
Richtungen gethan, nicht dem unerschöpflichen Reichtum der Natur zu gunsten
einzelner klassisch genannter Formen. Er konnte also auch nicht der trostlosen
Einförmigkeit und Leblosigkeit verfallen, der jene abgeleiteten Kunstrichtungen
nie entgehen.

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