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dass es Bilder gewesen, bei der Erklärung berücksichtigt zu werden ein Recht hat. Kann
man z. B. die Seirenen, welche Vögel zugleich und Jungfrauen sind, als eins oder das
andre, entweder als Jungfrauen, oder als Vögel deuten, ohne den Mythos zu vernichten
statt ihn zu erklären? Oder was wäre die Chimaira, wenn sie doch keine blosse Chimäre
ist, Geiss, Löwe, oder Schlange? Und entschiede man sich auch für das furchtbarste von
diesen Thieren, wo bliebe denn das Feuerschnauben, wie das Wandeln bei den Daidala?
Es liegt auf der Hand, dass das Wesentliche eben die Verbindung verschiedener in Wirk-
lichkeit unvereinbarer Dinge ist; dass dies eben das Wunder des Mythos ausmacht; welches
man also zu ergründen vernünftigerweise nicht hoffen kann, wenn man etwas sucht, das
nur einen Theil jener Composition enthält. Da man jedoch noch weniger etwas, das
sie alle in Wirklichkeit vereint enthielte, zu finden hoffen kann, so bleibt nur etwas
zu suchen, das alle in sich zu vereinen scheint: z. B. etwas, das zugleich sowohl einem
Vogel, wie einer Jungfrau ähnlich sähe, oder das zugleich weissgrau und zottig wäre wie
eine Geiss, brüllend wie ein Leu, auslaufend in eine Schlange und obendrein feuersprühend.
Die Bedeutung unsres ßildermylhos zu ergründen, liegt, abgesehn von der Un-
möglichkeit, einen Mythos anders als im Zusammenhänge der gesammten Mythologie be-
friedigend zu erklären, gar nicht in meiner Aufgabe. Es brauchen nur die mythischen
Analogieen angeführt zu werden zum Beweise, dass die Deutung nach einer ganz andern
Seite zu suchen ist; und dass allerhöchslens die Bekanntschaft mit irgend welchen Bildern,
aber keineswegs schon irgend wie entwickelten, für diese Gestaltung des Mythos voraus-
zusetzen ist, welche ausserdem schon für vorhomerisch zu hallen keine Nöthigung vorliegt.
Aristoteles verglich mit den wandelnden Bildern die Dreifüsse des Hephaistos II.
18, 375, des Künstlergottes, dessen Werkstatt im Himmel eben da beschrieben wird; und
nach oben, in’s Gebiet der wunderbaren Luft- und Himmelserscheinungen, weist doch
auch der alte Glaube, es seien Götterbilder von da herabgefallen, die öunevij. Äusser
jenen wandelnden Dreifüssen mit ihren Kesseln — für Lokomotiven müsste sie erklären,
wer der oben bekämpften Wundererklärung Würdiges an die Seite stellen wollte — finden
wir in des Gottes Werkstatt auch zwölf Blasebälge, die auf sein Geheiss von selber ar-
beiten. Aber noch ganz andere Dinge bewegen sich im Mythos: Bäume und Felsen von
Orpheus’ Gesang gerührt; und nach Amphions Leier die Steine, zur Mauer der Kadmeia
von selbst sich fügend; und reden kann der Kiel des Argoscbiffes. Die Stiere des Aietes,
erzfüssig und feuerschnaubend, hatte Hephaistos gemacht, zur Bewachung Europas auf
Kreta einen ehernen Hund, gleichwie die metallenen, aber lebenden Hunde bei Alkinoos’
Palast. Und damit wir klarer erkennen, dass mit dem erzenen Hund etwas gemeint ist,
was weder Hund noch Erz war, hören wir von einem andern Wächter der Europa auf
Kreta, den auch Hephaistos verfertigt; der zwar ehern heisst, aber kein Hund mehr,
sondern ein Riese ist; während wieder ein andrer Hüter einer Geliebten des Zeus, Argos,
bald Riese heisst, bald Hund, aber nicht mehr von Erz ist. Aber auch jener Erzriese von
Kreta, mit seiner einzigen Ader, besitzt sehr energisches Leben; umläuft Kreta dreimal des Tags
und wirft die nahenden Fremden mit Steinen, so dass also auch seine Erznatur nur scheinbar
ist; man müsste ihn denn etwa für ein Panzerschiff aus König Minos’ Kriegsflotte halten.
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dass es Bilder gewesen, bei der Erklärung berücksichtigt zu werden ein Recht hat. Kann
man z. B. die Seirenen, welche Vögel zugleich und Jungfrauen sind, als eins oder das
andre, entweder als Jungfrauen, oder als Vögel deuten, ohne den Mythos zu vernichten
statt ihn zu erklären? Oder was wäre die Chimaira, wenn sie doch keine blosse Chimäre
ist, Geiss, Löwe, oder Schlange? Und entschiede man sich auch für das furchtbarste von
diesen Thieren, wo bliebe denn das Feuerschnauben, wie das Wandeln bei den Daidala?
Es liegt auf der Hand, dass das Wesentliche eben die Verbindung verschiedener in Wirk-
lichkeit unvereinbarer Dinge ist; dass dies eben das Wunder des Mythos ausmacht; welches
man also zu ergründen vernünftigerweise nicht hoffen kann, wenn man etwas sucht, das
nur einen Theil jener Composition enthält. Da man jedoch noch weniger etwas, das
sie alle in Wirklichkeit vereint enthielte, zu finden hoffen kann, so bleibt nur etwas
zu suchen, das alle in sich zu vereinen scheint: z. B. etwas, das zugleich sowohl einem
Vogel, wie einer Jungfrau ähnlich sähe, oder das zugleich weissgrau und zottig wäre wie
eine Geiss, brüllend wie ein Leu, auslaufend in eine Schlange und obendrein feuersprühend.
Die Bedeutung unsres ßildermylhos zu ergründen, liegt, abgesehn von der Un-
möglichkeit, einen Mythos anders als im Zusammenhänge der gesammten Mythologie be-
friedigend zu erklären, gar nicht in meiner Aufgabe. Es brauchen nur die mythischen
Analogieen angeführt zu werden zum Beweise, dass die Deutung nach einer ganz andern
Seite zu suchen ist; und dass allerhöchslens die Bekanntschaft mit irgend welchen Bildern,
aber keineswegs schon irgend wie entwickelten, für diese Gestaltung des Mythos voraus-
zusetzen ist, welche ausserdem schon für vorhomerisch zu hallen keine Nöthigung vorliegt.
Aristoteles verglich mit den wandelnden Bildern die Dreifüsse des Hephaistos II.
18, 375, des Künstlergottes, dessen Werkstatt im Himmel eben da beschrieben wird; und
nach oben, in’s Gebiet der wunderbaren Luft- und Himmelserscheinungen, weist doch
auch der alte Glaube, es seien Götterbilder von da herabgefallen, die öunevij. Äusser
jenen wandelnden Dreifüssen mit ihren Kesseln — für Lokomotiven müsste sie erklären,
wer der oben bekämpften Wundererklärung Würdiges an die Seite stellen wollte — finden
wir in des Gottes Werkstatt auch zwölf Blasebälge, die auf sein Geheiss von selber ar-
beiten. Aber noch ganz andere Dinge bewegen sich im Mythos: Bäume und Felsen von
Orpheus’ Gesang gerührt; und nach Amphions Leier die Steine, zur Mauer der Kadmeia
von selbst sich fügend; und reden kann der Kiel des Argoscbiffes. Die Stiere des Aietes,
erzfüssig und feuerschnaubend, hatte Hephaistos gemacht, zur Bewachung Europas auf
Kreta einen ehernen Hund, gleichwie die metallenen, aber lebenden Hunde bei Alkinoos’
Palast. Und damit wir klarer erkennen, dass mit dem erzenen Hund etwas gemeint ist,
was weder Hund noch Erz war, hören wir von einem andern Wächter der Europa auf
Kreta, den auch Hephaistos verfertigt; der zwar ehern heisst, aber kein Hund mehr,
sondern ein Riese ist; während wieder ein andrer Hüter einer Geliebten des Zeus, Argos,
bald Riese heisst, bald Hund, aber nicht mehr von Erz ist. Aber auch jener Erzriese von
Kreta, mit seiner einzigen Ader, besitzt sehr energisches Leben; umläuft Kreta dreimal des Tags
und wirft die nahenden Fremden mit Steinen, so dass also auch seine Erznatur nur scheinbar
ist; man müsste ihn denn etwa für ein Panzerschiff aus König Minos’ Kriegsflotte halten.
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