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Altes Vorurteil

Was uns für die Bildkunst wegen der Lückenhaftigkeit des
Materials, vor allem durch das Fehlen der Malerei, nur in be-
schränktem Masse möglich, ihre Entwickelung im fünften Jahr-
hundert genau zu verfolgen, das ist uns nun für die Bühnenkunst
durch die Erhaltung so vieler Werke der drei grössten Meister ge-
geben. Nur gilt es sich von einem Vorurteil frei zu machen, das
auch die beiden älteren, Aeschylus und Sophokles, in weit höherem
Masse jedoch den jüngsten, Euripides betroffen hat und gerade für diesen
heute mehr denn je herrschend ist. Auch bei den beiden ersten
hat man sich seit langer Zeit gewöhnt, nach ihren persönlichen
Ansichten zu forschen, ganz besonders nach ihrem religiösen Glau-
ben, und die Antwort nicht in der Summe jedes einzelnen von ihren
Werken, geschweige denn in deren Gesamtheit finden wollen, son-
dern in den einzelnen Aussprüchen, sowohl anderer Personen als
namentlich des Chores, der ja mehr einem Gesamtbewusstsein Aus-
druck zu geben schien. Dies ist zwar weitaus der bequemere Weg,
aber er ist notwendig irreführend, weil- er von der Voraussetzung
ausgeht, dass die Dichter, ihr eigenes Werk zerstörend, selber gesprochen
hätten, wo sie ihre Personen sprechen lassen. Auch bei Aeschylus
und Sophokles verschloss man sich durch solche Voraussetzung
wichtigen Einsichten, aber man ging doch nie so weit, sie nicht
vor allem als Dichter anzusehen und zu würdigen. Anders bei
Euripides, der sich, um die letzte Konsequenz dieser Auffassung zu
nennen, der herkömmlichen Kunst- und Dichtungsform nur bedient
haben soll, um sie zu zerstören. Nicht den Dichter und Bühnen-
künstler lässt man gelten, sondern den Bühnenphilosophen preist
man und erhebt ihn weit über Sophokles, noch viel mehr aber, in
gänzlicher Verkennung, über den, der er selbst war und sein sollte.
Diese falsche, gänzlich unhistorische Schätzung des Euripides hat
natürlich in seiner besonderen Art einen Grund und hat sich daher
bereits zum zweitenmal produziert, das erstemal schon im Altertum,
das zweitemal in neueren Zeiten.
Tatsache ist doch zunächst, dass der junge Athener, von der
Malerei zur Bühnenkunst übergehend, mit 25 Jahren oder wenig
älter im Jahre 456/5 sich zum erstenmal zum tragischen Wettkampf
meldete, und von da bis zum Jahre 408 fast jedes zweite Jahr sich
um den Preis bewarb, also jedes Jahr etwa zwei Dramen dichtete.
Wie er damit selbst den von dem Archonten, der die Chöre zuzu-
weisen hatte, anerkannten Anspruch erhob, Dichter zu sein, so haben
auch seine Zeitgenossen ihn nur als Dichter angesehen. Vor allem
Aristophanes, äusser dem 10 bis 15 Jahre älteren Sophokles, dessen
 
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