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Pfeilstücker, Suse
Das Wesen der Plastik — Führer zur Kunst, Band 20: Esslingen a.N.: Paul Neff Verlag (Max Schreiber), 1922

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https://doi.org/10.11588/diglit.67363#0054
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Künste in Fragen der Form eindeutig sind? In jener grauen
schöpferischen Zeit, da sich die Rundplastik von der „plastischen
Erscheinung“ löste, also aus dem Kunstgewerbe die reine
Kunst der Bildnerei entsprang, ging die junge Rundplastik einen
anderen Bund ein, die Kameradschaft mit der Archi-
tektur.*) Schweigende Sphinxe und riesige Göttergestalten
bewachten die ägyptischen Tempel, so eng mit der Architektur
verbunden, daß sie die Wand zu stützen schienen. Merkwürdige
geflügelte Stiere mit Menschenhäuptern trugen die Portale der
assyrischen Paläste. Nirgends aber haben die beiden Künste
einen innigeren Bund geschlossen als in der köstlichen Karya-
tidenhalle des Erechtheions, wo die Rundplastik wichtige Teile
der Architektur ersetzt.
Von dieser frühen Hinneigung zur Baukunst konnte sich
die Rundplastik nicht mehr ganz loslösen. Immer wieder
bedarf sie einer Stütze, einer Wand, einer Anlehnung, die das
Relief ganz natürlich in seiner Rückfläche gefunden hat. Und
obwohl die von der Wand gänzlich losgelöste Figur ein Eigen-
leben führt, formt sie mancher grübelnde Künstler so, als ob doch
eine Rückfläche hinzuzudenken sei, nämlich in Relief-
auffassung. — Auch in zukünftigen Zeiten wird diese immer
wieder mit Ernst und Eifer verteidigt werden. So wie in einem
Menschen manchmal rätselhafte Gelüste und sonderbare Ge-
danken auftauchen, die Jahrhunderte früher im Leben eines
Urvaters seines Geschlechts bestimmend waren, so wird auch
in der Plastik die erste Ehe mit der Architektur immer wieder
lebendig. Nie und nimmer können die aus einer gemeinsamen
Fähigkeit, dem plastischen Formsinn, entstandenen drei: Plastik,
Architektur, plastische Erscheinung (Möbel, Gerät, Keramik)
sich gegenseitig entbehren; sie orientieren sich von Zeit zu
Zeit wieder nach der gemeinsamen Urquelle.
Allseitig gearbeitete Plastik und reliefartig auf-
gefaßte, beide haben je nach dem Standort ihre Be-
rechtigung.
*) Einen ähnlichen Bund schloß auch die Reliefbildnerei. Vgl.
S. 5.
 
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