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Prinzhorn, Hans
Bildnerei der Geisteskranken: ein Beitrag zur Psychologie und Psychopathologie der Gestaltung — Berlin, 1922

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https://doi.org/10.11588/diglit.11460#0176
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bunden sind: in homosexuelle Handlungen und grausame Quälereien (den Penis
mit Haken herausreißen usw.) deutet er das Verhalten der Wärter in seinen
Erregungszuständen um. Hier fühlt er sich als Opfer ausgeliefert, vergewaltigt
in einer Lebenssphäre, die er als Domäne der Kraft und Willkür kennt — mit
Ausnahme jenes Abhängigkeitsverhältnisses zu seiner Frau, das eben durch die
sexuelle Bindung fundiert ist.

Zu diesen zwei Erlebniskomplexen, in denen sich Brendel als Vergewaltiger
und als Opfer fühlt, kommt ein dritter mit ähnlichem Charakter, nur ohne Be-
ziehung zur Sexualität. Das ist die langwierige Leidensgeschichte, die sich an
die Krankheit und Amputation seines linken Beines knüpft, wobei er wieder,
zunächst körperlich, dann aber auch im allgemeineren Sinne bei den nach-
folgenden Rentenkämpfen sich als Opfer überlegenen Mächten preisgegeben
fand. Ob die Phantasien über Zwitterbildungen wirklich auf praktische Er-
fahrungen zurückgehen, wie Brendel behauptet, läßt sich nicht entscheiden.
Wir müssen uns deshalb darauf beschränken, die auffindbaren psychischen
Determinanten dieses ungeheuer zäh wirksamen Vorstellungskomplexes zu
zeigen. In dem Gutachten von 1906 wird erwähnt, Brendel sei angeblich in
geschlechtlichen Dingen sehr lange unaufgeklärt geblieben. Das macht es wahr-
scheinlich, daß er damals viel davon gesprochen hat, wie das aus der nächsten
Zeit denn auch ausdrücklich betont wird. Jetzt erzählt er eine ganze Reihe von
kindlichen sexuellen Erlebnissen spontan, bei denen man nicht fesstellen kann,
wie weit er konfabuhert, z. B. wie er den Unterschied zwischen Knabe und
Mädchen im Bette an seiner Schwester studiert habe. Ferner kehren häufig
wieder Erwägungen oder zynische Witze über Selbstbefriedigung bei beiden
Geschlechtern, über das Sexualleben der Geistlichen, der Nonnen und Schwe-
stern. In alle diese Betrachtungen trägt er seine eigene starke Sexualität hinein
und stellt sich nach diesem Maßstabe ähnliche Erlebnisse überall vor. Dieser
ganze Wust von sexuellen Phantasien hat nun bei Brendel nicht den kontemplativ
lüsternen Charakter, der gewöhnlich dabei vorherrscht, auch nicht den Zug ins
Moralisierende, die Verhüllungstendenz mit dem Gefühl der Sündhaftigkeit,
sondern durchaus eine heidnische Diesseitigkeit und derbe Urwüchsigkeit. Der
Sexualtrieb, den er meint, ist als Zwang, als unentrinnbarer Drang über alles
Lebendige verhängt, richtet sich unbedenklich auf alles Lebendige, das ihm
begegnet, und herrscht auch im Bereich der Religion — soweit eben Menschen-
art in Frage kommt. Daher sind nicht nur Nonnen und Geistliche, sondern auch
Christus ihm unterworfen.

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