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Im Kampf um die Kunst: die Antwort auf den Protest deutscher Künstler — München, 1911

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https://doi.org/10.11588/diglit.3376#0101
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94 W. WORRINGER



auch vor dem unverständlich und absurd Scheinenden und
Extremen nicht zurückschreckt. Diesen Willen zum Ver-
ständnis können wir verantworten. Mag für einige Snobs das
Credo quia absurdum da entscheidend sein, wir andern haben
das Bewusstsein, dass es der unbeirrbare entwicklungsgeschicht-
liche Instinkt ist, der uns hier leitet. Darin hegt das Ent-
scheidende. Wo das unvorbereitete und entwicklungsträge
Publikum nur Ausgeburten subjektiver Willkür und blöder
Sensationsmache sieht und sehen muss, da empfinden wir das
Entwickhmgsgeschichtlich-Notwendige, da sehen wir vor allem
eine Einheitlichkeit der Bewegung, die etwas Elementares an
sich hat und vor der alles Subjektiv-Scheinende verschwindet.
Ja, ich glaube nicht fehlzugehen, wenn ich die tiefste Wurzel
dieses neuen künstlerischen Wollens gerade in der Über-
windung des Subjektiv-Willkürlichen und nur Individuell-
Bedingten sehe. Mit diesem unverkennbaren Drang zum
Objektiven, zur zwingenden Vereinfachung der Form, zu einer
elementaren Vorurteilslosigkeit der künstlerischen Wiedergabe,
hängt jener Grundcharakter der neuen Kunst zusammen, den
man als sinnlose Primitivitäts- und Kindlichkeitskomödie vor
dem erwachsenen Europa lächerlich machen zu können glaubt.
Aber diese Wirkung wird nur bei denen erreicht werden,
die die primitive Kunst noch nicht verstehen gelernt haben und
in ihr nur ein unentwickeltes Können sehen, über das man mit
der Überlegenheit des Erwachsenen lächelt. Dieser Er-
wachsenenhochmut des europäischen Kulturmenschen aber
beginnt heute wankend zu werden und der wachsenden Einsicht
in die elementare Grossartigkeit primitiver Lebens- und Kunst-
äusserung zu weichen. Aus derselben Notwendigkeit heraus,
aus der wir den jungpariser Synthetisten und Expressionisten
ein williges Verstehen entgegenbringen, ist in uns ein neues
Organ lebendig geworden für die primitive Kunst. Wie selbst-
verständlich erscheint es uns heute, dass der Stilcharakter
dieser primitiven Kunst nicht durch ein unentwickeltes Können,
sondern durch ein andersgerichtetes Wollen bedingt ist, durch
ein Wollen, das auf grossen elementaren Voraussetzungen
 
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