Entdeckungen auf Schallplatten
II. HARRY RICHMAN
Amerika ist nicht nur ein Kontinent,
sondern auch ein Begriff, unter dem sich
jeder etwas anderes vorstellt. Paul
Morand machte sich in seinem Buch von
New York über die Deutschen lustig, die,
nach wenigen Tagen in Amerika, Amerika
im Verhältnis zu Deutschland nicht mehr
amerikanisch genug fanden. Dieses Ver-
hältnis zu Amerika hat unsere wirtschaft-
lichen Auffassungen bestimmt, mit bekann-
tem Erfolg, aber auch unsere kulturelle
Erkenntnis beengt. Das Große und Starke
in Amerika, das drüben eine mehr unter-
irdische und private Anerkennung fand,
blieb uns vielfach verborgen, eben weil es
nicht amerikanisch genug schien. Was
alles dazu gehört, ist ein Thema für sich,
jedenfalls blieb einer der allerstärksten
Chansonniers Amerikas hier unbekannt,
eben weil er so gar nicht dem Typus des
Gigolosängers entsprach, der die Mode be-
herrschte und beherrscht. Das Gegenteil
von diesen Süßholzflöten ist die brutale
negerhafte Stimme eines Harry Richman.
Harry Richman ist für den Ameri-
kaner ein fester Begriff, auch wenn ihm
der ganz große Durchbruch zum Erfolg
versagt bleiben mußte. Der Tonfilm hat
Richman nur wenige Male in Anspruch
genommen. Die Motion Pictures „Puttin'
on the ritz" oder „Near the rainbow's
end" konnten nicht die großen Erfolge
werden, die Weltruhm verleihen, weil
eben Richmans Wesen allen beliebten
Vorstellungen des Valentino-Helden ins
Gesicht schlug. Ein häßlicher Mann —
unter diesem Kennwort konnte er wohl
die Besucherinnen der night clubs verrückt
machen, aber nicht zu den Theaterbesuchern
des Middle West oder gar der südameri-
kanischen Provinzen und pazifischen Kinos
vordringen, von denen der Welterfolg ab-
hängt.
Die Schallplatten-Kataloge bezeichnen
Richman bald als Tenor, bald als Rhytmic
Vocalist. In Wahrheit ist er ein starker,
heldischer Bariton, der freilich, wie so oft
bei diesem Schlag, in der Höhe ein reiner
Tenor ist, in der Tiefe wie ein Negerbaß
klingt. Kein echter Tenor zu sein, war
schon eine Erschwerung für Richman. Seine
Eigenart, die ihn von hundert Chanson-
und Jazzsängern unverwechselbar abhebt,
ist die tragische und melodramatiche Fin-
sternis seines Wesen. Aus seinem Stoff
wäre unter anderen Umständen ein echter
Tragöde geworden, aber geboren in einer
Zeit, die einem Lande, in einer Gesellschaft,
die der Tragik des Lebens den unverbrüch-
lichen Glauben der Prosperity an ein
Happy end entgegensetzte, konnte er nur
der Sänger des Songs werden, der Ballade,
des Vagabundenliedes und Melodramas.
Für diesen Typ des Songs und des
Chansons hat Richman einen Stil geschaf-
fen, dem an packender Kraft keiner unter
allen mir bekannten Jazzsängern gleich-
kommt. Alles ist in seinem Vortrag Ernst,
fast Schicksal. Richman singt das Lied
eines Vagabunden, der reich wird, aber
ewig ausgestoßen bleibt, die Tragik des
ewig Betrogenen, den Schmerz des Men-
schen, der lachen will, aber brüllen muß.
Es ist ein gefährliches Finsteres in dieser
Kunst, und wenn sie auch den Besuchern
der Nightclubs nur ein ungefährliches Gru-
seln beibringt, so ist doch für uns besseres
Europa nicht das, was Richman singt, son-
dern was er selbst im herkömmlichen melo-
dramatischen Schlager nicht verbergen kann,
packend. Diese Marschkraft in dem herr-
lichen „Ro — Ro — rollin' along"
(A 8801), oder diese machtvolle Erzäh-
lungskunst in „King for a day" (A 8107),
diese Uebergänge auf allen seinen Platten
vom Singen zum Sprechen, das wie Sin-
gen klingt, musikalisch auf einer ganz
reinen Linie gehalten, diese Fähigkeit vor
allem, aus jedem Text eine Szene zu
machen, ja das Gesungene in ein großes
Theater zu verwandeln, das man beim
Hören der Platte ohne weiteres sieht —
das hebt Richman hoch über die siegreichen
Stars, die der blinde Amerikanismus
Europas zu neuen Heroen gemacht hat.
Nur der einzige, der als erster aus dem
Jazz etwas Heroisches machte, Richman,
blieb unbekannt. Auf Brunswick gibt es
sieben Platten von ihm, wenn sie nicht
mangels Erfolgs schon aus dem Handel zu-
rückgezogen sind. Auch das ist möglich.
Und zeigt nur, daß die Schallplatte, die
nicht geht, auch nur ein Sarg ist, in dem
eine Stimme verschwindet, auf immer,
wenn nicht dem Mimen die Mitwelt recht-
zeitig Kränze flicht. Felix Stössinger
611
II. HARRY RICHMAN
Amerika ist nicht nur ein Kontinent,
sondern auch ein Begriff, unter dem sich
jeder etwas anderes vorstellt. Paul
Morand machte sich in seinem Buch von
New York über die Deutschen lustig, die,
nach wenigen Tagen in Amerika, Amerika
im Verhältnis zu Deutschland nicht mehr
amerikanisch genug fanden. Dieses Ver-
hältnis zu Amerika hat unsere wirtschaft-
lichen Auffassungen bestimmt, mit bekann-
tem Erfolg, aber auch unsere kulturelle
Erkenntnis beengt. Das Große und Starke
in Amerika, das drüben eine mehr unter-
irdische und private Anerkennung fand,
blieb uns vielfach verborgen, eben weil es
nicht amerikanisch genug schien. Was
alles dazu gehört, ist ein Thema für sich,
jedenfalls blieb einer der allerstärksten
Chansonniers Amerikas hier unbekannt,
eben weil er so gar nicht dem Typus des
Gigolosängers entsprach, der die Mode be-
herrschte und beherrscht. Das Gegenteil
von diesen Süßholzflöten ist die brutale
negerhafte Stimme eines Harry Richman.
Harry Richman ist für den Ameri-
kaner ein fester Begriff, auch wenn ihm
der ganz große Durchbruch zum Erfolg
versagt bleiben mußte. Der Tonfilm hat
Richman nur wenige Male in Anspruch
genommen. Die Motion Pictures „Puttin'
on the ritz" oder „Near the rainbow's
end" konnten nicht die großen Erfolge
werden, die Weltruhm verleihen, weil
eben Richmans Wesen allen beliebten
Vorstellungen des Valentino-Helden ins
Gesicht schlug. Ein häßlicher Mann —
unter diesem Kennwort konnte er wohl
die Besucherinnen der night clubs verrückt
machen, aber nicht zu den Theaterbesuchern
des Middle West oder gar der südameri-
kanischen Provinzen und pazifischen Kinos
vordringen, von denen der Welterfolg ab-
hängt.
Die Schallplatten-Kataloge bezeichnen
Richman bald als Tenor, bald als Rhytmic
Vocalist. In Wahrheit ist er ein starker,
heldischer Bariton, der freilich, wie so oft
bei diesem Schlag, in der Höhe ein reiner
Tenor ist, in der Tiefe wie ein Negerbaß
klingt. Kein echter Tenor zu sein, war
schon eine Erschwerung für Richman. Seine
Eigenart, die ihn von hundert Chanson-
und Jazzsängern unverwechselbar abhebt,
ist die tragische und melodramatiche Fin-
sternis seines Wesen. Aus seinem Stoff
wäre unter anderen Umständen ein echter
Tragöde geworden, aber geboren in einer
Zeit, die einem Lande, in einer Gesellschaft,
die der Tragik des Lebens den unverbrüch-
lichen Glauben der Prosperity an ein
Happy end entgegensetzte, konnte er nur
der Sänger des Songs werden, der Ballade,
des Vagabundenliedes und Melodramas.
Für diesen Typ des Songs und des
Chansons hat Richman einen Stil geschaf-
fen, dem an packender Kraft keiner unter
allen mir bekannten Jazzsängern gleich-
kommt. Alles ist in seinem Vortrag Ernst,
fast Schicksal. Richman singt das Lied
eines Vagabunden, der reich wird, aber
ewig ausgestoßen bleibt, die Tragik des
ewig Betrogenen, den Schmerz des Men-
schen, der lachen will, aber brüllen muß.
Es ist ein gefährliches Finsteres in dieser
Kunst, und wenn sie auch den Besuchern
der Nightclubs nur ein ungefährliches Gru-
seln beibringt, so ist doch für uns besseres
Europa nicht das, was Richman singt, son-
dern was er selbst im herkömmlichen melo-
dramatischen Schlager nicht verbergen kann,
packend. Diese Marschkraft in dem herr-
lichen „Ro — Ro — rollin' along"
(A 8801), oder diese machtvolle Erzäh-
lungskunst in „King for a day" (A 8107),
diese Uebergänge auf allen seinen Platten
vom Singen zum Sprechen, das wie Sin-
gen klingt, musikalisch auf einer ganz
reinen Linie gehalten, diese Fähigkeit vor
allem, aus jedem Text eine Szene zu
machen, ja das Gesungene in ein großes
Theater zu verwandeln, das man beim
Hören der Platte ohne weiteres sieht —
das hebt Richman hoch über die siegreichen
Stars, die der blinde Amerikanismus
Europas zu neuen Heroen gemacht hat.
Nur der einzige, der als erster aus dem
Jazz etwas Heroisches machte, Richman,
blieb unbekannt. Auf Brunswick gibt es
sieben Platten von ihm, wenn sie nicht
mangels Erfolgs schon aus dem Handel zu-
rückgezogen sind. Auch das ist möglich.
Und zeigt nur, daß die Schallplatte, die
nicht geht, auch nur ein Sarg ist, in dem
eine Stimme verschwindet, auf immer,
wenn nicht dem Mimen die Mitwelt recht-
zeitig Kränze flicht. Felix Stössinger
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