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Repertorium für Kunstwissenschaft — 9.1886

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Dahlke, Gotthilf: Romanische Wandmalerei
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https://doi.org/10.11588/diglit.66023#0193

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Romanische Wandmalereien in Tirol.

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sige Richtung der gehobenen Palmen und das schmale Oval der feingeschnit-
tenen Gesichter der Doppelreihe einen hohen Grad von Regelmässigkeit; doch
wird die Starrheit hier durch leichten Wechsel in der Handbewegung und in
der Gewandung gemildert, die den Stoff bald mit, bald ohne Steinverzierung,
mit rundem und viereckigem Muster oder mit quadrirter Innenseite zeigt und
die Tunica unter dem Mantel bald verbirgt, bald zum Vorschein bringt. Den
jugendlichen Frauen fehlen bei allem Gleichmass der Gestaltung in der glatten
Stirn, der schmalen, geraden Nase, den starren Augen, dem kleinen Munde
und feingerundeten Kinn nicht leichte Verschiedenheiten der Physiognomie;
die Dräuen und Lider sind überall durch braune Bögen angedeutet, die gelbe
Iris mit dunkelbrauner Pupille ist durch braunen Umriss von dem Weiss des
Auges abgehoben, die Oberlippe durch aufgesetztes Licht erhöht und mit feiner
Spitze auf die kantige Unterlippe herabgezogen — und dennoch finden sich in
jedem Kopf Besonderheiten, welche dem Ausdruck ernster Ruhe leichte Schat-
tirungen des Empfindungslebens verweben. Wie feierlich erscheint das erste
Paar im Schmuck des breiten Kronenreifes auf dem dunklen Haar und wie
fremdartig wirkt die turbanartige Verhüllung des Scheitels bei Felicitas und
bei Perpetua, die ihre Hände vor der Brust, wie im Gebet, Zusammenlegen!
Von den Männern tragen Mauritius und Eustachius fast greisenhafte
Züge und einen ergrauenden, getheilten Bart, das letzte Paar in mittlerem
Alter ist durch die Tonsur, ein Buch und die farbig durchwirkte Tunica mit
Perlensäum von den jugendlichen Genossen unterschieden, deren bartlosen
Köpfen die henkelartigen Ohren nicht zur Verschönerung gereichen. Wenn
die Regelmässigkeit der Züge und die Ruhe der Gestalten wohl die feierliche
Stimmung, aber nicht den Inhalt des geistigen Lebens ahnen lassen, so be-
zeichnet die Reihenfolge der Heiligen von den unbestimmten Mienen der Palmen-
trägerinnen an den Seitenwänden zu den würdevollen Köpfen der Kirchenfürsten
im Hintergründe des Presbyteriums doch einen Fortschritt der Charakteristik.
Die leisen Töne, welche aus dem Munde der Frauen die Reinheit ihres frommen
Gemüthes offenbaren, verstärken sich durch die Stimmen der Märtyrer und
Seelenhirten zu einem weihevollen, von ernster Gesinnung und der Kraft des
Glaubens getragenen Chor, der dem sündigen, in Leidenschaften und das un-
ruhvolle Getriebe der Welt verstrickten Erdenkinde den heiligen Frieden und
die Macht der Kirche zum Bewusstsein bringt. Indess verschleiert der mo-
derne Farbenüberzug von Roth und Grün, von Violett und Blaugrau, von
hellem und dunklerem Gelb, die Bilderschrift des alten Meisters doch zu sehr,
um über seine Formengebung, Modellirung und Durchgeistigung der Züge volle
Klarheit zu gewinnen: die Lücken der ausgebrochenen Köpfe an der Süd-
und Nordwand sind im Anschluss an das aufgefrischte Bilderwerk so getreu-
lich ausgefüllt, dass auch der Fachmann schwerlich mehr die Grenze des Alten
und Neuen finden dürfte, weil Alles nun gleichmässig »in prächtigen Farben«
glänzt.
Die Decke trägt ein Nachbild der Vision, welche Johannes in der Apo-
calypse — Gap. 21, 10 etc. — so plastisch beschreibt. Dem Grundriss von
Jerusalem sind in den Ecken des bezinnten, fünfstöckigen Mauerrings vier
 
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