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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 2.1901

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Heft 12
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Schürmann, Johannes: Rheinische Dichter, (4): Wilhelm Jordan und sein Demiurgos
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https://doi.org/10.11588/diglit.45535#0284
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«MINI86W DieHILK (IV).

^Vilkelin ^soräan unä sein vsmiurgos.

Im vergangenen Winter Sassen einrnal in einer
pariser Bierstube ein Dutzend oder rnebr Oeutscbe
Zusammen: Beamte von der Botscbast, Künstler,
^eitungssckreiber, besonders aber Lausleute, lauter
lVlänner, die seit ^abren in Baris ansässig sind
aber gerne Oeutscbe bleiben wollen und darum
die seltenen Oelegenbeiten benutzen, wo rnan
„unter sieb" sein kann.
Bs war nacb einern cler
sogenannten lVlontags-
essen, die von cler deut-
scben Kolonie wäbrend
des Winters einmal in
jedem lVlonat veranstaltet
werden, und denen regel-
mässig, wenn sick der
8cbwarm verlausen bat,
eine gemütlicbeKneiperei
in verengerter laselrunde
solgt. lVlan spracb von
deutscber Bitteratur. ^ut'
diesem Oebiet ist man
bier Zurück, man bat
wenig 2eit 2um Besen,
und diemodernenBamen,
die in Oeutscbland in
jedermanns lVlund sind,
baben scbon ein paar
^abre nötig, um den bis-
sigen Bandsleuten ver-
traut 2u werden. 80
wurden nur Barnen wie
Bbers, Oabn, Blesse ge-
nannt. Oa sagte ein Laus-
mann, der mir gegenüber
sass: „Oer beste und
grösste ist docbWilbelm
Jordan." Oer das sagte,
wollte gewiss keinen ^n-
sprucb daraus erbeben,
eine Autorität in littera-
riscben Dingen ^u sein,
^ber die Worte Kamen
so rubig und sicber, so
geradezu selbstverständlicb beraus, dass viele ibn
verwundert ansaben und niemand widerspracb.
Bür diesen einen lVlann war Wilbelm Jordan
der beste und grösste; er Konstatierte einiacb
diese l'batsacbe. Ond mir war es in diesem
Augenblicke, als sollte icb meinem Bacbbarn wie
einem alten Breunde die Hand scbütteln, denn
wir batten etwas Oemeinsames, uns beiden war
derselbe lVlann, derselbe Oicbter, ?um persön-
licben Brlebnis geworden.
Icb babe Wilbelm Jordan nie geseben, aber
icb stebe seit ^wan^ig ^akren in einem kreund-

scbastlicben Verbältnis 2U ibm, von dem er keine
Ebnung bat. ^.Is 8ekundaner lernte icb seine
Bibelunge auswendig, und als 8tudent betracbtete
icb den Oemiurgos als das tägbcbe Brot meines
Bergens. Das war zweilebos ein Bückscbritt,
denn die Bibelunge sind und bleiben das Bebens-
werk Jordans, und alles andere ist nur Vorspiel
oder Bacbspiel. ^Vber
vielleicbt war mir in der
2eit, wo man sick ?um
lVlann entwickelt, gerade
das Bucb am angemes-
sensten, das die Bnt-
wickelungsgesckickte
eines ganzen lVlannes
entbält. Ond unter dem
„ganzen lVlann" verstebe
icb bier weniger Bein-
ricb, den Beiden des Oe-
dicbtes, als vielmebr den
Oicbter selbst. Im Oemi-
urgos giebt sicb uns Jor-
dan gan^, wir baben da
den 8türmer und Dränger,
der die „Irdiscben Bban-
tasien"undden„8cbaum"
gescbrieben, wir baben
den lVlann, den die Boli-
tik und das Beben ^ur
8e1bstbesinnung bringen,
wir baben auck den ab-
geklärten reisen Künstler,
denn der 8änger der
„Bibelunge" kündigt sicb
deutlicb an. ^a, wir
baben Jordan von allen
8eiten, wir bnden den
Bsarrerssobn, dem die
Ideologie durcb Oene-
rationen vererbt in den
Knocken steckt, wir
baben den begeisterten
^.nkänger naturwissen-
sckastlicber W elterkennt-
nis, den Bntwickelungstbeoretiker vor Darwin,
den gelebrten Bbilologen und meisterbatten Über-
setzer, den Bolitikus und B1otten-8cbwärmer,
den Brneuerer des 8tabreims und den Bro-
pbeten von Oeutscblands Wiedergeburt. Wir
baben episcbe, dramatiscbe und l^riscbe Bar-
ben, baben Brösa, klassiscbs Versmasse, Knittel-
verse, die 8tropkenlormen der Lomantiker,
Hdbtterationen, und wenn es sonst nocb eine
spracblicbe Kunstsorm giebt, so bin icb im voraus
sicber, dass sie im Oemiurgos vorkommt. Im
Oemiurgos treten etwa 150 Bersonen und ver-



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