Wandlung.
er wohl denken, daß er gerade so sei wie sie, so stark nnd
gesund. Garnicht anders. Aber es war selten, daß er
das denken konnte.
Eine feine Falte grub sich zwischen die dunklen
Augen. Die Mutter mochte Hans nicht. Sie hatte es
nie gesagt. Aber das war es ja, was ihn immer so traurig
machte, daß er alles fühlte und wußte, ohne daß sie etwas
sagte. Das lähmte ihn so. Wenn er wußte, daß sie etwas
nicht gerne hatte, dann konnte er so schlecht bitten. Er
ballte die kleine Hand in der Tasche. Dieses Mal wollte
er bitten. Er wollte sie sofort fragen, es wäre feige,
wenn er es nicht täte. Er sprang die Treppe hinauf
und wollte die Türe zu der Mutter Zimmer öffnen,
da hörte er Stimmen — es war Besuch da.
Er ließ die Hände hängen und setzte sich still an den ge-
deckten Tisch und wartete. Die Mutter kam und war so
in Gedanken, daß sie ihn wenig beachtete und garnicht
merkte, daß er nicht essen konnte. Er überlegte, daß sie
eigentlich immer in Gedanken war, daß sie immer ernst
und streng aussah, und er sie noch nie lachen gesehen hatte.
Nun konnte er sie nicht mehr fragen. Er versuchte ein
paarmal anzufangen, aber sie hörte es nicht. — Und er-
wollte doch so gerne mit!
Als er am Nachmittag bei den Schulbüchern saß,
kam die Mutter und sah in seine Hefte, ihm die Hand auf
den Kopf legend. Nun könnte er es sagen, aber er
wußte nicht mehr, wie er anfangen wollte, er hatte die
Worte ganz vergessen. Ich will heute abend fragen,
wenn sie an mein Bett kommt, dachte er, und atmete
ein wenig auf, — nun war er ein paar Stunden un-
gequält.
Bei dem einsamen Abendtisch sagte er nichts, und die
Mutter merkte garnicht, wie still er war. Gleich will
ich fragen, dachte er, es ist ja garnicht so schwer, gleich,
gleich, wenn ich im Bette liege. — Sie kam wie jeden
Abend mit dem Licht zu ihm herein und betete mit ihm.
Er faltete die Hände, und sein Herz klopfte heftig, er fühlte
es im Halse klopfen. — Er konnte doch nichts sagen.
Und sie ging wieder. Er horchte auf jeden Schritt, und
wie sie die Türen schloß. Nun war sie in ihren: Zimmer,
nun kam sie nicht mehr zurück. Er könnte wohl rufen,
dann würde sie kommen und ihn erstaunt und ernst an-
sehen, und er würde doch nicht bitten können. Er wußte
ja, sie würde es nicht gern erlauben.
Er setzte sich aufrecht in seinem Bette hin. Er konnte
nun gerade in ein erleuchtetes Zimmer im Hause gegen-
über sehen. Da war wieder der Musiker und geigte
und wiegte sich dabei, in seinem Zimmer hin und her
gehend. Er hörte so gerne, wenn drüben die Geige sang,
wenn sonst ringsumher alles still war, und er sah es so
gerne, wenn der Geiger sich dabei wiegte. Er kletterte
aus seinem Bett, setzte sich auf die Fensterbank und horchte
lange hinüber. Wenn er doch auch geigen könnte! Aber
die Mutter meinte immer, das sei nichts für ihn, dann
würde er nur noch mehr träumen. Er lehnte den Kopf
an die geöffnete Scheibe und schloß die Augen. Die
Geige sang weich durch den Abend zu ihm herüber,
und viele Bilder stiegen in ihm auf, die er lieb hatte.
Er dachte an die Großmutter. An die dachte er jeden
Abend. Sie war fortgegangen und kam nicht wieder,
und jeden Abend betete er, daß sie wiederkommen möge,
— das wußte niemand. Sie war so gut zu ihm gewesen.
Wenn er den Kopf in ihren Schoß legte und sie zitterig
mit den alten Fingern darüberstrich, dann konnte er sie
um alles bitten, um tausend Geschichten, die sie ihm er-
zählen sollte, und sie tat es, bis er einschlief. — „Das
tut Mutter nie", hatte er einmal gesagt. — „Mutter hat
Kummer", hatte sie geantwortet, da mußt du sie nicht
quälen." — Er hatte dann eine Weile nachdenken müssen.
Nun wußte er doch, wie man das nannte, was zwischen
ihnen war, wie eine dunkle Mauer, so daß er nie zu ihr
herankommen konnte. Kummer war es also.
„Großmutter, Kummer muß etwas ganz Häßliches
sein," hatte er gesagt. „Du hast doch nie Kummer ge-
habt." — „Doch, mein Junge." — „Aber nicht, solange
ich dich kenne, Großmutter." Da hatte sie ihn: nur ganz
weich über das Haar gestrichen und zum Fenster hinaus-
gesehen. Nein, er hatte nie gemerkt, daß sie einmal
Kummer gehabt hätte. — Wo mochte sie nur jetzt sein?
Er war so allein mit der Mutter und er haßte ihren
Kummer, haßte ihn, so stark er hassen konnte.
Er öffnete die Augen. Drüben war es dunkel, und die
Geige sang nicht mehr. Aber der Mond war über das
Nachbarhaus gestiegen und lächelte hell und schön zu
ihm herein. Er faltete die Hände, das war der liebe Gott.
Eines Abends hatte er es auf einmal gewußt, daß das
der liebe Gott war. Am Tage konnte man ihn nicht sehen,
nur am Abend, wenn alle schliefen. Dann zeigte Er sich
und schien so mild und gut auf die Erde herunter, als
wenn Er da nach dem Rechten sehen wolle. Manchmal
war Er sogar garnicht zu sehen, oder nur ein klein wenig
in der Nacht, ein halber Ring. Das sah lustig aus. Der
liebe Gott hatte sicher eine Tarnkappe, wie Held Sieg-
fried, und manchmal hatte Er nur einen Zipfel auf.
Er sah lächelnd in das milde Licht: „Lieber Gott,
mach doch, daß ich die Mutter morgen bitten kann.
Bitte, lieber Gott."
Nun war er ganz ruhig, und müde kroch er unter die
Decke.
Am nächsten Morgen war die Mutter nicht aufge-
standen, sie rief ihn aber zu sich ans Bett. Sie hatte die
Nacht nicht geschlafen und litt an Kopfweh. Da konnte
er sie wieder nicht fragen. Er ging langsan: zur Schule
und kam noch gerade recht, als die erste Stunde begann.
„Na," sagte Hans in der ersten Pause in: Hofe,
„kommst du heute nachmittag?"
„Nein" — Jürgen sah vor sich hin — „ich kann
nicht."
„Wieso? Du magst wohl nicht? Es ist dir wohl
nicht vornehm genug bei uns!"
„Doch, sicher, Hans, ich käme wirklich gerne, aber ich
kann heute nicht."
„Ha, du darfst wohl nicht?" —
Jürgen wurde rot, er konnte doch nicht sagen, daß
er garnicht gefragt hatte. — Hans lief zu den andern,
die drängten sich um ihn herum und liefen dann lachend
in Reihen an Jürgen vorbei und riefen: „Muttersöhn-
chen, Muttersöhnchen." Er verbarg sich in einer Ecke,
wo sie ihn nicht sehen konnten, es tat ihm weh, daß sie
so riefen und über ihn lachten.
Sie hatten wenig Aufgaben zu machen am Nach-
mittag. Nun sitzen sie im Wagen, dachte er, und konnte
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er wohl denken, daß er gerade so sei wie sie, so stark nnd
gesund. Garnicht anders. Aber es war selten, daß er
das denken konnte.
Eine feine Falte grub sich zwischen die dunklen
Augen. Die Mutter mochte Hans nicht. Sie hatte es
nie gesagt. Aber das war es ja, was ihn immer so traurig
machte, daß er alles fühlte und wußte, ohne daß sie etwas
sagte. Das lähmte ihn so. Wenn er wußte, daß sie etwas
nicht gerne hatte, dann konnte er so schlecht bitten. Er
ballte die kleine Hand in der Tasche. Dieses Mal wollte
er bitten. Er wollte sie sofort fragen, es wäre feige,
wenn er es nicht täte. Er sprang die Treppe hinauf
und wollte die Türe zu der Mutter Zimmer öffnen,
da hörte er Stimmen — es war Besuch da.
Er ließ die Hände hängen und setzte sich still an den ge-
deckten Tisch und wartete. Die Mutter kam und war so
in Gedanken, daß sie ihn wenig beachtete und garnicht
merkte, daß er nicht essen konnte. Er überlegte, daß sie
eigentlich immer in Gedanken war, daß sie immer ernst
und streng aussah, und er sie noch nie lachen gesehen hatte.
Nun konnte er sie nicht mehr fragen. Er versuchte ein
paarmal anzufangen, aber sie hörte es nicht. — Und er-
wollte doch so gerne mit!
Als er am Nachmittag bei den Schulbüchern saß,
kam die Mutter und sah in seine Hefte, ihm die Hand auf
den Kopf legend. Nun könnte er es sagen, aber er
wußte nicht mehr, wie er anfangen wollte, er hatte die
Worte ganz vergessen. Ich will heute abend fragen,
wenn sie an mein Bett kommt, dachte er, und atmete
ein wenig auf, — nun war er ein paar Stunden un-
gequält.
Bei dem einsamen Abendtisch sagte er nichts, und die
Mutter merkte garnicht, wie still er war. Gleich will
ich fragen, dachte er, es ist ja garnicht so schwer, gleich,
gleich, wenn ich im Bette liege. — Sie kam wie jeden
Abend mit dem Licht zu ihm herein und betete mit ihm.
Er faltete die Hände, und sein Herz klopfte heftig, er fühlte
es im Halse klopfen. — Er konnte doch nichts sagen.
Und sie ging wieder. Er horchte auf jeden Schritt, und
wie sie die Türen schloß. Nun war sie in ihren: Zimmer,
nun kam sie nicht mehr zurück. Er könnte wohl rufen,
dann würde sie kommen und ihn erstaunt und ernst an-
sehen, und er würde doch nicht bitten können. Er wußte
ja, sie würde es nicht gern erlauben.
Er setzte sich aufrecht in seinem Bette hin. Er konnte
nun gerade in ein erleuchtetes Zimmer im Hause gegen-
über sehen. Da war wieder der Musiker und geigte
und wiegte sich dabei, in seinem Zimmer hin und her
gehend. Er hörte so gerne, wenn drüben die Geige sang,
wenn sonst ringsumher alles still war, und er sah es so
gerne, wenn der Geiger sich dabei wiegte. Er kletterte
aus seinem Bett, setzte sich auf die Fensterbank und horchte
lange hinüber. Wenn er doch auch geigen könnte! Aber
die Mutter meinte immer, das sei nichts für ihn, dann
würde er nur noch mehr träumen. Er lehnte den Kopf
an die geöffnete Scheibe und schloß die Augen. Die
Geige sang weich durch den Abend zu ihm herüber,
und viele Bilder stiegen in ihm auf, die er lieb hatte.
Er dachte an die Großmutter. An die dachte er jeden
Abend. Sie war fortgegangen und kam nicht wieder,
und jeden Abend betete er, daß sie wiederkommen möge,
— das wußte niemand. Sie war so gut zu ihm gewesen.
Wenn er den Kopf in ihren Schoß legte und sie zitterig
mit den alten Fingern darüberstrich, dann konnte er sie
um alles bitten, um tausend Geschichten, die sie ihm er-
zählen sollte, und sie tat es, bis er einschlief. — „Das
tut Mutter nie", hatte er einmal gesagt. — „Mutter hat
Kummer", hatte sie geantwortet, da mußt du sie nicht
quälen." — Er hatte dann eine Weile nachdenken müssen.
Nun wußte er doch, wie man das nannte, was zwischen
ihnen war, wie eine dunkle Mauer, so daß er nie zu ihr
herankommen konnte. Kummer war es also.
„Großmutter, Kummer muß etwas ganz Häßliches
sein," hatte er gesagt. „Du hast doch nie Kummer ge-
habt." — „Doch, mein Junge." — „Aber nicht, solange
ich dich kenne, Großmutter." Da hatte sie ihn: nur ganz
weich über das Haar gestrichen und zum Fenster hinaus-
gesehen. Nein, er hatte nie gemerkt, daß sie einmal
Kummer gehabt hätte. — Wo mochte sie nur jetzt sein?
Er war so allein mit der Mutter und er haßte ihren
Kummer, haßte ihn, so stark er hassen konnte.
Er öffnete die Augen. Drüben war es dunkel, und die
Geige sang nicht mehr. Aber der Mond war über das
Nachbarhaus gestiegen und lächelte hell und schön zu
ihm herein. Er faltete die Hände, das war der liebe Gott.
Eines Abends hatte er es auf einmal gewußt, daß das
der liebe Gott war. Am Tage konnte man ihn nicht sehen,
nur am Abend, wenn alle schliefen. Dann zeigte Er sich
und schien so mild und gut auf die Erde herunter, als
wenn Er da nach dem Rechten sehen wolle. Manchmal
war Er sogar garnicht zu sehen, oder nur ein klein wenig
in der Nacht, ein halber Ring. Das sah lustig aus. Der
liebe Gott hatte sicher eine Tarnkappe, wie Held Sieg-
fried, und manchmal hatte Er nur einen Zipfel auf.
Er sah lächelnd in das milde Licht: „Lieber Gott,
mach doch, daß ich die Mutter morgen bitten kann.
Bitte, lieber Gott."
Nun war er ganz ruhig, und müde kroch er unter die
Decke.
Am nächsten Morgen war die Mutter nicht aufge-
standen, sie rief ihn aber zu sich ans Bett. Sie hatte die
Nacht nicht geschlafen und litt an Kopfweh. Da konnte
er sie wieder nicht fragen. Er ging langsan: zur Schule
und kam noch gerade recht, als die erste Stunde begann.
„Na," sagte Hans in der ersten Pause in: Hofe,
„kommst du heute nachmittag?"
„Nein" — Jürgen sah vor sich hin — „ich kann
nicht."
„Wieso? Du magst wohl nicht? Es ist dir wohl
nicht vornehm genug bei uns!"
„Doch, sicher, Hans, ich käme wirklich gerne, aber ich
kann heute nicht."
„Ha, du darfst wohl nicht?" —
Jürgen wurde rot, er konnte doch nicht sagen, daß
er garnicht gefragt hatte. — Hans lief zu den andern,
die drängten sich um ihn herum und liefen dann lachend
in Reihen an Jürgen vorbei und riefen: „Muttersöhn-
chen, Muttersöhnchen." Er verbarg sich in einer Ecke,
wo sie ihn nicht sehen konnten, es tat ihm weh, daß sie
so riefen und über ihn lachten.
Sie hatten wenig Aufgaben zu machen am Nach-
mittag. Nun sitzen sie im Wagen, dachte er, und konnte
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