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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 26.1916

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Heft 9
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Zur Linde, Otto: Logik und Physiologie des Werkes
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Bartels, Ilse: Wandlung
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https://doi.org/10.11588/diglit.26490#0322

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Logik und Phy siologie des Verses.
Das Ideal einer für Momente „vollkommenen Ba-
lance", die nicht Tod und toter Punkt bedeutet, sondern
Knospenpunkt des Welt- und Seelengeschehens. Ein
„aktives" Gleichgewicht der Kräfte, hochgetragen und
befruchtet in der Welt des Dichters.
Durch echte Kunst erschlafft niemand, nicht der Dich-
ter, nicht der Kunstgenießer. Kunst ist die Identität von
„Leistung und Genuß", mindestens im Kunstgenießer.
Im Dichter ist es noch etwas anders. Das soll aber heute
nicht abgehandelt werden.
Identität von Leistung und.Genuß im Kunstempfän-
ger, Freiheit und Gebundenheit in einer Seele, das
Gesetz der Antinomien „praktisch" aufzuheben versucht
in der Kunst.
Und nicht durch Umbiegung, sondern durch Gleich-
gewicht, nicht durch Überbrückungen, Täuschungen der
Oberfläche, sondern durch Vertiefung. Die Kunst ist in
Wahrheit die „praktische" Metaphysik, während die
Philosophie die „kritische" ist. Philosophie ist aber an sich
nicht amusisch. Kunstblinde Philosophie hat an einer
schweren Mißbildung der menschlichen Psyche zu leiden.
Die Gefahr der Kunstseele aber ist wucherndes
Tänzertum. Die Dynamis als Veitstanz.
Falsch aber ist der übliche kriterielle Unterschied
zwischen Dichten und Denken als Form und Inhalt oder
als Physis und reinem Geist.
Beide Einseitigen können groß und genial sein,
brauchen aber nicht als Einseitigkeiten „notwendiger-
weise" gedacht zu werden.
Am glückhaftesten ist wohl die Kosegmentenhaftig-
keit. Der Dichter ein rezeptiver Denker, und der Denker
ein rezeptiver Dichter. Wo sich aber beides vereint
findet, da ist Glück und Qual. Und die „aktive" Balance
für sich zu finden, ist die Lebensleistung eines solchen
Genius.
Aber selbst in ihm wird trotz Gleichgewichts nicht
Gleichheit der Kräfte herrschen, sondern eine Aus-
balancierung der Kräfte, deren Resultante von Fall zu
Fall anders ausfallen wird, sowohl von einem Genius
zum andern wie auch innerhalb des Genius selber. Denn
auch wo die Kraftlatenz gleichzusetzen ist, wird ihre
jeweilige Anwendung, d. h. also die jeweilige Menge
aus der zur Verfügung stehenden Gesamtmenge jeder
der beiden Kräfte verschieden sein. Daher hüte man jich,
in den Werken jedesmal die addierte Summe der Be-
standteile des Schöpfers zu fordern. Man unterscheide
also sehr gewissenhaft zwischen derGanzheit des Schöpfers,
die unbedingt und überall zu fordern ist, und der Plurali-
tät seiner Betätigung. Eine Kraftrichtung kann „latent"
da sein, wird auch als solche Latenz benötigt, damit die
Ganzheit des Dichters da sei, auch die Latenz ist ein vor-
bedingender Ausland, eine Wesensfärbung, aber sie
braucht nicht handelnd aufzutreten. Ihr Sein genügt
oft genug.
Gleichzeitig sind Latenzen auch oft genug als bloße
Verschluß- oder Öffnungsventile wirkend, die also nicht
„produzieren", sondern die Produktion davor beschützen,
gehindert zu werden, oder sich zu überschlagen.
Latenzen sind also sowohl Produktionsreserven wie
auch Balancegeber, etwa wenn es so was gibt: sowohl
Saugwurzeln wie auch Stützwurzeln.

Deshalb auch fehlt im Dichter der Kunstgenießer nie-
mals*ganz. Tortzdem man annehmen könnte, daß'er, je
größer der Dichter ist, zum Kunstgenuß (neben feiner
Produktion) kaum Zeit- und Energiequantitäten auf-
brächte. Die Unerschöpflichkeit seiner Erlebnismöglich-
keiten, die physiologische Kraft seines Aufnahmezentrums,
leistet das alles noch. Hinwiederum wird sein Ausruhn
sowohl vom Kunstgenuß wie auch vom (rezeptiven oder
produktiven) Denken wieder eigene dichterische Produk-
tion sein. Also keine oder wenigstens durchaus nicht
immer eine „Anregung", sondern direkt ein auf-sich-selbst-
sich-Beschränken, eine Arbeit.
Der Dichter „lernt" für sein Aufnahmezentrum, für
die Feinermachung seiner selbst als „Instrument", nie-
mals aber für die Stücke, die er auf seinem Instrument
spielt, es sei denn, er sei ein bloßer Epigone.
So hat auch des Dichters Vers ureigentümlich seine
Physiologie. Abgezogene Schemata gibt es für einen
echten Dichter nicht.
Infolgedessen gibt es theoretisch und auch vertieft-
praktisch keine zwei gleichen Daktylusverse auf der
ganzen Welt.
Dasselbe gilt auch, wenn wir vom Daktylus nur das
Schema abziehen. Wie entsetzlich sind dann die schema-
tischen Schreibungen!
Strebe zum, Licht eh die, Nacht und der, Tod und
das, Grab dich um, schatten.
Daher auch die schematische Möglichkeit, ein solches
Schema auf die verschiedensten Schreibungsvarianten zu
bringen. Wer hindert mich, obigen Vers zu schreiben:
„Strebe / zum Licht / eh die Nacht / und der Tod /
und das Grab / dich umschatten."
Also:
so daß dieser Vers „schematisch" abzuziehen sei als Nr. 1:
Trochäus, Nr. 2: Jambus, Nr. 3 bis 5: Anapäste, Nr. 6:
ein tertiärer Päon. — Also keinesfalls so einfach und
„schematisch", wie man sich Hexameter denkt.
Das alles aber wird noch tausendfach komplizierter,
wenn man auf die rein phonetischen Reize der Verse
eingehen will.
Die Verse der größten Dichter bergen Geheimnisse,
von denen sich ein Lehrbuchverfasser auch zur Nacht nicht
träumen läßt.
Das aber ist geistig (logisch auch) und physiologisch die
Grundwahrheit: dem Dichter und seinem Vers hilft kein
abgezogenes „Schema", dessen ursprünglicher Latenz-
träger und naturkausaler Schöpfer nicht der Dichter
selber ist. f637^ Or. Otto zur Linde.
andlung.
Von Ilse Bartels.
Jürgen kam langsam aus der Schule. Er ging dicht
den Häusern entlang, daß sein Tornister die Wände streifte.
Er merkte es nicht, er sah immer geradeaus: Morgen
war er beim Hans eingeladen, die ganze Klasse. Sie
wollten mit dem Wagen hinausfahren und draußen
im Wald Räuber spielen und Soldat. Das würde fein
werden. Wenn viele da waren und wild durcheinander-
sprangen, und er war mitten unter ihnen, dann konnte


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